Es ist mehr als nur irgendeine Kindheit, die ihn so beharrlich in die Welt trägt. Es ist die Kindheit von Juan José Millás.
Die Großfamilie lebt in Madrid und führt hier ein schlichtes, ärmliches Leben. Die schäbige Behausung und die kümmerliche Bekleidung lässt die Kälte des Winters länger dauern. Eine Kälte, die sich wie ein Zeichen dauerhaft in den Körper des kleinen Juanjo einbrennt. „Wer als kleines Kind gefroren hat, wird für den Rest seines Lebens frieren – die Kälte der Kindheit verschwindet nie.“ In den Momenten der Kälte sehnt sich Juanjo an die Zeit vor Madrid zurück. Wie auf einer wärmenden Ansichtskarte sieht er Valencia vor sich, die Küste, den Strand, die Sonne. Unbesehen hat der Umzug in die trostlose Stadt eine spürbare Wunde in der Kinderseele hinterlassen. Im Nachhinein verwischen die Konturen der Erinnerung und verleihen Valencia eine geradezu paradiesische Bedeutung. Hier ist nicht nur Wärme, sondern hier werden auch Träume wahr. Im Traum findet Juanjo wie ein Schatzsucher Peseten am Strand von Valencia. Eingeweiht in seine Träume lässt die Mutter die kindlichen Träumereien wahr werden. Sie buddelt heimlich im Sand die Peseten ein, die Juanjo dann ganz unverhofft findet.
Die Straße, in der sie jetzt wohnen, kennt keine Wunder. Hier ist er gefangen. Gefangen in der Armut und in der wenigen Zuneigung, die er empfindet, gefangen in der Angst vor den manisch-depressiven Ausbrüchen der Mutter. In der Werkstatt seines Vaters, der medizinische Elektronikartikel nachbaut und repariert, findet er eines Tages Äther. Immer öfter greift er heimlich nach der kleinen Flasche, verleiht sich für einen Moment ein Stück berauschte Flucht aus der Wirklichkeit. Er freundet sich mit dem schwer herzkranken Nachbarsjungen Vitaminreich an. Vitaminreich hat im Keller seines Elternhauses eine Rückzugsstätte. Von hier aus blickt er auf die Straße und verleiht ihr für einen Moment einen sonst nie wahrnehmbaren Glanz. Für Juanjo bekommt die Wirklichkeit der Straße durch die Kellersicht eine andere Gestalt. Niemals zuvor hat er den Bäcker, die Kneipe und die vielen Alltäglichkeiten, die da so leuchten, wahrgenommen.
Der Blick auf die Straße wird zur Sucht. Eine Sucht, die sich Vitaminreich bezahlen lässt, eine Sucht, für die Juanjo seinen Vater bestiehlt. Eine Sucht, deren Befriedigung reumütig an ihm nagt. Eine Sucht, die durch das von Vitaminreich aus Glasscherben gebastelte Auge Gottes die Straße schillern lässt. Mit dem Tod Vitaminreichs entzieht sich Juanjo immer mehr der Wirklichkeit, gibt sich nur noch seinen Fantasien hin. Seine schulischen Leistungen werden schlechter. Die Eltern schicken ihn auf eine Privatschule. Hier wird nicht nur gelernt, sondern auch geschlagen und gedemütigt. Die Lage scheint aussichtslos und das Priesterseminar als letzte Flucht. Eine Flucht, die von Angst begleitet ist. Einer Angst, die den Autor auch Jahre später begleitet. Einer Angst, die erst in der Psychoanalyse sichtbar wird. Und erst mit der endgültigen Trennung von den Eltern gelingt es dem Autor, sich aus seiner Kindheit zu befreien.
Juan José Millás beschreibt das Schreckgespenst seiner Kindheit. Je länger diese Kindheit in ihm andauert, je mehr verklärt er sie im Nachhinein. Der Umzug von Valencia nach Madrid wird zu einem nachhaltig negativen Erlebnis und gleicht der Vertreibung aus dem Paradies. Der Vater ein Bastler, die Mutter manisch-depressiv, die vielen Geschwister und die Armut sind die Schatten der Kindheit, die mit Äther betäubt werden und später mit Drogen. Der Mittelpunkt der Kinder ist die trostlose Straße vor dem Haus, die erst durch den schwerkranken Nachbarsjungen Vitaminreich einen nie gesehenen Glanz bekommt. Eine verklärte beständige Erinnerung, die die Kindheit länger dauern lässt, die den Blick auf die Straße der Kindheit in Augenblicken sichtbar macht und sie als Ventil in einsamen schwierigen Situationen nutzt, die eine Rückzugsstätte bildet und Angst nimmt. Eine Angst, die den Autor auch als Erwachsener noch verfolgt, die ihm die Luft in engen Räumen nimmt, die zur ständigen Panik und Flucht führt. Mit dem endgültigen Abschied von den toten Eltern verwischen langsam die Konturen der Kindheit, lässt der schwermütige Sog nach.
Meine Straße war die Welt. Eine überaus sinnliche Beschreibung einer bedrückenden Kindheit, deren Schatten und Licht der Autor wie eine Ansichtskarte bei sich trägt.
Juan José Millás, Meine Straße war die Welt, Titel der Originalausgabe: El Mundo, 2007 bei Editorial Planeta, Barcelona, aus dem Spanischen von Peter Schwaar, Roman, 208 Seiten, gebunden, 2009 S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, € (D) 19,95 | € (A) 20,60 | SFR 34,90, ISBN: 978-3-10-049013-1
© Soraya Levin