Es sind die Gesichter ihres Lebens, die Anne Dorn in ihrem Roman Spiegelungen vereint. Sechs Gesichter, sechs unterschiedliche weibliche Protagonisten als Zeugnis eines Lebens.

Da legt sie zunächst den Fokus auf das Kind Minza. Sorgsam wie mit Pinselstrichen zeichnet sie die kleine Minza. Die verborgenen Blicke zur Mutter. Blicke, die suchen. Blicke, die versuchen, die Mutter zu verstehen. Blicke, die manchmal eine andere, eine fröhliche Mutter sehen. Eine Minza, die sich in der Natur zwischen Wäldern, Seen und Blumenwiesen vergräbt, die dabei die Zeit und alles um sie herum vergisst. Minza, die beschützt wird von ihrem Freund Lukas. Ein Weggefährte in der Natur, ein Retter in Lebensnot. Einer, der geschlagen wird und dessen Schmerz zu ihrem wird.

Der Krieg ist zu Ende und da sind Lene und Werner. Der Osten ihre Heimat und nun Flüchtlinge im eigenen Land. Mit der Ehe haben sie sich einen Zufluchtsort geschaffen, um ihr gegenwärtiges Leben irgendwie in den Griff zu bekommen. Jetzt leben sie in Berlin. Werner rasiert sich seine Vergangenheit einfach ab, nennt sich nun Ilja und pocht auf seine Freiheit. Lene gefangen in sich selbst, will nur eins, gebraucht werden. Iljas Leben, energiegeladen, mitreißend, krachend. Sein Rhythmus schwingt nicht auf sie zurück. Er rastlos, von Frau zu Frau auf der Suche nach der Glückseligkeit und sie in ihrer ausgehungerten Einsamkeit.

Da ist sie wieder, die Einsamkeit bei Hanna. Die Familie, die alles abverlangt. Dieser Mann, der sie gefügig machen will, dessen brutale Finger sich in ihrem Gesicht wieder finden. Ihre Eltern in der alten Heimat Dresden. Bedrückend die Besuche. Der stille Vorwurf der Mutter, eine Gefangene in ihrem Land. Eine Gefangenschaft, die Distanz zwischen Mutter und Tochter geschafft hat.

Stumm die so gern gesagten aber nur gedachten Worte zwischen ihr und ihrer Mutter. Hanna, hungernd nach Glück. Abgenutzt vom Leben auch Judith. Ihr Rückzug vom Leben ist eine Kur in den Bergen. Job- und wohnungslos und dabei das Gefühl, etwas im Leben verpasst zu haben, eine verschleierte Glückseligkeit nur in Momenten der Ekstase zu erleben. Und Clara. Sie ist zerrissen inmitten ihrer Gefühle für Anselm. Anselm, den sie nie richtig kennen gelernt hat, dessen Interessen andere als die ihren sind. Anselm mit den schönen Händen. Sie hat die gemeinsame Zeit nicht genutzt und sie nie ernsthaft berührt. Anselm, der sich von Clara immer stärker entfernt hat, der sich jetzt dem Alkohol hingibt, der sie beklaut. Clara, an die Wand gepresst unterdrückt sie stumm ihr inneres Grollen, verpasst Jahr um Jahr die Trennung. Solange, bis Anselm sich trennt.
Erst im Alter von 70 Jahren spürt Clara, dass sie ihn braucht.
Das Alter ist da. Verkörpert in Milehajucla. Auch sie jagt dem Glück hinterher und opfert damit kostbare Zeit.

Spiegelungen zeigt, dass das Leben eines Menschen mehr wie eine Geschichte ist. Anne Dorn webt aus fünf verschiedenen Leben von der Kindheit über das Fortschreiten der Jahre bis zum Alter ein Leben. Obwohl jedes dieser Leben aus einer anderen Perspektive skizziert ist, haben sie doch alle eines gemeinsam. Die ursprüngliche Heimat Dresden.
Zwischen Erinnerungen und abgenutzten Beziehungen werden die nie gelebten eisverkrusteten Sehnsüchte und verpassten Gelegenheiten aus verschiedenen Blickwinkeln wie ein lebendiges Bild gezeichnet. Die Unmittelbarkeit des Körpergefühls wird atmosphärisch feinsinnig durch das Erleben der Natur geschildert.

Eine mit autobiografischen Zügen durchsetzte erlesene dichte Spiegelung des Selbst auf der Suche nach Sinn, präsentiert in einer Leseblüte feiner menschlicher Innenwelten.

Anne Dorn, Spiegelungen, Roman, 300 Seiten, gebunden, Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2010, ISBN: 978-3-937717-42- 5, 19,80

© Soraya Levin