Mathias Énards Roman Zone ist wie ein Vulkan, der eine apokalyptische Gewaltlava ausspeit. Ein schwindelerregender Kriegsstrom, der sich durch die gesamte Geschichte der Menschheit zieht, der alles Leben vernichtend mit sich reißt.

Das bis ins Unendlich gehende Kriegsdrama der Menschheit lässt Énard seinen von Alkohol und Drogen gezeichneten Ich- Erzähler auf der Zugstrecke zwischen Mailand und Rom erzählen. Énards Protagonist ist ein ehemaliger Geheimagent, der mit einer neuen Identität reist und sich jetzt Yvan Deroy nennt. Auf seiner Reise führt er nur einen Koffer mit sich. Der Inhalt gleicht einer Ballung von Gewalt. Ein Dokument über menschliche Gräueltaten stapelt sich auf das andere. Deroy beabsichtigt den Koffer an den Vatikan zu verkaufen und mit dem Geld ein neues Leben zu beginnen. Ein letzter Kraftaufwand, um sich aus der Spirale der Gewalt zu befreien, denn seine bisherigen Versuche sind gescheitert.

Von Station zu Station führt er im inneren Monolog wilde Gedankensprünge von Krieg zu Krieg, legt er Stück für Stück die Kriegsroute der Menschheit frei. Watend im Blut und in einer Unmasse von Gräueltaten geht es von Troja bis zum Holocaust und Abu Ghraib. Unter den bergenden Kriegswracks ist auch sein eigenes als Söldner im Balkankrieg. Wie Spinnenbeine umschließen ihn die Erinnerungen an das Menschentöten im Kosovo, an seine Freundschaft mit Andrija, um den er trauert wie Priamos um Hektor, an seine eigene hasserfüllte Aggression wie bei Achill, die ihn antreibt, einem gefangenen Serben den Kopf abzuschneiden. Wie eine Seuche breitet sich neben der menschlichen Kriegsgeschichte auch die vernichtende Wortgewalt der antisemitischen Dichter Robert Brasillach, Louis-Ferdinand Céline und Maurice Bardèche aus. Dazwischen taucht der Ich-Erzähler ab in seine eigene Beziehungs- und Familiengeschichte. Gedanken an die Frauen, in denen er Halt und Ablenkung gesucht hat, die ihn befreien sollten, aus dieser endlosen Gewaltkette. Gedanken an die eigenen Eltern, an die Franjo Tuđman verehrende Mutter, an den im Algerienkrieg folternden Vater.

Die Gewissensbisse kleben an Yvan Deroy, zwischendurch ein stiller elender Schrei. Für Momente vertieft er sich in einen Roman, der über eine Liebe und ein sinnloses Sterben im Libanonkrieg erzählt. Je näher Rom rückt, desto schwerer wiegen die Zeugen der Gewalt im Koffer, desto mehr wird die Erinnerung an den Balkankrieg für den Ich-Erzähler zur Qual. Was ihm am Ende bleibt, ist einzig die spirituelle Reinigung von der Gewalt.

Wer sich auf den Roman Zone einlässt, durchlebt ein Kontinuum von Gewaltexzessen und Barbarei, das kaum Zeit zum Luft schnappen lässt. Denn wo auch, bei diesem einen Satz ohne Punkt, der sich über hunderte von Seiten zieht, der die Aneinanderreihung eines Krieges an den anderen zeigt. Die gesamte menschliche Kriegsgeschichte lässt Énard auf nur einer Bahnstrecke von Mailand nach Rom erzählen. Das macht deutlich, egal wie lang die Strecke ist, Krieg und unmenschlicher Hass und Barbarei sind allgegenwärtig, sind wie der Blick auf die ins Weite reichende Bahnschiene unendlich. Von der Antike über die Neuzeit und die Moderne bis ins 20. Jahrhundert. Von Troja, über Algerien, Marokko, Ägypten, den Libanon, Auschwitz, Bosnien, Kroatien, den Irak.

Wie James Joyce in Ulyssee verwendet Énard das Stilmittel des „stream of consciousness“ und lässt dabei seinen Ich- Erzähler in wilden Gedankensprüngen eine Wortballung von Folter und Barbarei erleben, die die unabänderliche und unausweichliche Destruktivität des Menschen deutlich macht. Der mitgeführte Koffer voller menschlicher Zerstörungswut zeigt, womit der Mensch von Generation zu Generation behaftet ist. Die Lust des Menschen auf das Gemetzel findet sich selbst in Worten wieder. Bardèche, der die Täter des Holocausts und den Massenmord an den europäischen Juden verherrlicht. Brasillach, der in seiner antisemitischen Zeitschrift Je suis partout zum Mord aufruft und Céline, dessen Texte gewaltigen Judenhass transportieren.

Énards Ich-Erzähler versucht sich mit einer neuen Identität aus dieser unzerstörbaren Spirale des unmenschlichen Hasses zu befreien. Doch der Fremde, dessen Name er annimmt, ist ein gewalttätiger Psychopath. So transportiert sich die Gewalt von einem Selbst zum nächsten.
Immer wieder legt der Autor den Blick auf die Antike frei. Eine mythologische Symbolik, übertragbar auf alle Zeiten. Eine gewalttätige Götterwelt, die bis in den Vatikan reicht.

Der letzte Versuch von Énards Protagonisten sich der menschlichen destruktiven Totalität zu entziehen, scheitert. Auch auf den "besänftigten Achill" folgt die Apokalypse wie es der Dichter Konstantinos Kavafis in seinem Gedicht Trojaner beschreibt. "Alle unsere Mühen - da wir doch in Unglück fielen - alle unsere Mühen sind wie jene der Trojaner. ... Jedoch ist das Verderben uns gewiss."

Wer in Zone ein abstraktes ethisches Postulat sucht, sucht vergebens, denn die konservative Grundhaltung des Autors, die Gewaltlosigkeit als Utopie zeichnet, lässt hierfür keinen Raum.

Zone, ein ungewohnt chaotisches Wortlabyrinth von Gewalt, das sich absolut lohnt durchzuhalten, denn sein beeindruckender Tiefgang zeigt sich erst im Nachhinein.

Mathias Énard, Zone, Roman, Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Zone bei Actes Sud, Arles, 608 Seiten, gebunden, 2010 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin, 28,00 [D] | [A] |, ISBN-13: 9783827008862

© Soraya Levin