Das Warschauer Ghetto

Veröffentlicht am 19. April 2023 um 20:01

1938 lebt die größte jüdische Gemeinde mit über 380.000 Mitgliedern in Europa in Warschau. Polens Hauptstadt ist ein Zentrum der jüdischen Kultur und des Weltjudentums gewesen.
Über 50 % der jüdischen Bevölkerung ist zur der Zeit im Handel tätig und über 30 % im Handwerk und in der Industrie.
Keine drei Jahre später im Jahr 1941 wird Warschau zum größten Ghetto auf polnischem Boden. 1943 ist die jüdische Gemeinde Warschaus vernichtet.

Nach dem deutschen Überfall auf Polen wird Ende September 1939 Warschau von der deutschen Wehrmacht besetzt. Die jüdische Gemeinde sieht sich etlichen Zwängen seitens der deutschen Besatzer ausgesetzt. Ihre Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt, ihr Eigentum wird ihnen genommen, die Kennzeichnungspflicht für Juden wird eingeführt, sie werden rechtlos.
Im November 1939 erklärt die deutsche Besatzung einen Teil der von Juden bewohnten Altstadt zum „Seuchensperrgebiet“. Die Ghettoisierung ist damit eingeleitet. Am 2. Oktober 1940 erfolgt der Befehl für die offizielle Bildung des Ghettos, begleitet von gewaltsamen Umsiedlungsaktionen. Die nichtjüdischen Bewohner des „Seuchensperrgebietes“ müssen ihre Wohnungen verlassen. Die noch ca. 100.000 jüdischen Bewohner außerhalb des Sperrgebietes werden zwangsweise ins Ghetto gebracht. Das Ghetto wird hermetisch abgeriegelt. Über 350.000 Menschen werden hinter einer 18 km langen und ca. 3 m hohen Mauer, bestückt mit Glasscherben und Stacheldraht, eingesperrt. Der einzige Kontakt in die umgebende Stadt sind die 14 Mauerzugänge, die von der deutschen und polnischen Polizei bewacht werden. Der jüdische Ordnungsdienst ist für die Kontrolle im Innern verantwortlich.
Wer versucht, das Ghetto zu verlassen, dem droht die Todesstrafe. Ein Schießbefehl sorgt für die entsprechende Umsetzung. In der am 10. November 1941 erlassenen Verordnung heißt es: „...6. Um die Durchführung der o.a. Verordnung zu gewährleisten, ist bei Ausbruchsversuchen aus dem Ghetto in Zukunft von jedem Polizeibeamten auch gegen Frauen und Jugendliche von der Schusswaffe Gebrauch zu machen...“ .

Die „Gazeta Zydowska“ warnt darauf hin in ihrer Nummer 22 vom 18.März 1941 die Ghettobewohner, sich von den Mauerausgängen fernzuhalten, da auf jeden geschossen wird, der sich einem Tor nähert oder der durch die Maueröffnungen sichtbar ist.

Als Bindeglied zwischen den deutschen Besatzern und der Ghettobewohner dient der aus 24 Angehörigen der jüdischen Gemeinde bestehende Judenrat, der auf Anordnung der Besatzer eingerichtet wird. Der Rat kümmert sich nicht nur um die Alltagsangelegenheiten der Ghettobewohner wie die Fürsorge für die Armen und die innere Verwaltung sondern er hat die Befehle der Gestapo auszuführen und für die Umsetzung der Anordnungen im Ghetto zu sorgen. Vorsitzender des Rates wird Adam Czerniaków.

Die jüdische Ordnungspolizei, die zeitweise bis auf 2.500 Mann anwächst, muss den Besatzern und der Gestapo zuarbeiten. Die Ordnungspolizei bewacht die Ausgänge, bringt die Zwangsarbeiter zu den Arbeitsstellen, führt Razzien mit durch.

Trotz der widrigen Umstände lebt die Kultur im Ghetto weiter. Es gibt Theatergruppen, Schulen, Bibliotheken, Zeitungen, Musik und ein Symphonieorchester unter Adam Furmanskis Leitung, ein konspiratives Archiv, das Berichte über das Leben und Schicksal der Menschen im Ghetto und anderer besetzter Landesteile sammelt. Die Leitung des heute nach ihm benannten Archivs hat Emanuel Ringelblum. Nach und nach wird jedoch der kulturelle Bereich durch die vielen Verordnungen ausgehöhlt. Auch müssen sich die Menschen immer stärker um ihr Überleben kümmern.

So genannte „Einsiedlungen“ von Juden, Sinti und Roma verengen das Leben der Ghettobewohner. Im Februar 1941 werden 70.000 Juden, die westlich der Weichsel gelebt haben, ins Ghetto Warschau deportiert. Das Ghetto ist hoffnungslos überfüllt. Bis zu neun Personen müssen sich schon einen Raum teilen. Und immer mehr Menschen kommen ins Ghetto. Nach offizieller Zählung leben Anfang 1941 bereits um die 380.000 Menschen im Ghetto. Schätzungen sprechen von bis zu 500.000 Menschen. Während des Bestehens des Warschauer Ghettos werden fast eine halbe Million Menschen in das Ghetto deportiert. Die Lebensverhältnisse verschlechtern sich dramatisch.

Die ca. 50 Privatbetriebe des Ghettos produzieren ohne Bezahlung für die deutsche Wehrmacht. Diejenigen, die noch Wertgegenstände haben, veräußern diese an Polen und Deutsche. Die Zahl der Mittellosen vergrößert sich. Die stetige Verarmung mit all den Folgen wie Hunger, Krankheit, Tod setzt ein. Der Handel ist aufgrund eines Erlasses vom 22. Februar 1941 des Warschauer Distriktführers eingestellt. Die Lebensmittelversorgung wird immer knapper. Stehen für die deutschen Besatzer 2612 Kalorien täglich zur Verfügung, so sind es für die Ghettobewohner lediglich 184 Kalorien. Die Hilfsorganisationen wie z.B. die Volksküchen, können die Not nicht lindern, da auch sie über keine ausreichenden Lebensmittel mehr verfügen. So haben die Ärzte zwar einen Sanitätsdienst organisiert, verfügen aber über keine Medikamente, um Krankheiten und Epidemien bekämpfen zu können. Die schlechten hygienischen Umstände tragen zur Verschlechterung der Gesamtsituation der Ghettobewohner bei. Kinder und alte schwache Menschen sind als erstes vom Tod betroffen. Die Strassen sind morgens mit Leichen übersät. Und obwohl Schmuggler die Ghettoeinzäunung nachts überqueren und versuchen Nahrung ins Ghetto zu bringen und sich dabei ständig der Gefahr aussetzen, von den Deutschen entdeckt oder von der polnischen Bevölkerung denunziert zu werden, steigt die Anzahl der Toten. In der Ausgabe Nr. III vom 14. November 1941 meldet die „Gazeta Zydowska“ im Monat August 5550, im September 5560 und im Oktober 4545 Todesfälle.

Mit der „Endlösung der Judenfrage“ beginnt am 22. Juli 1942 die Deportation der Ghettobewohner ins Vernichtungslager Treblinka.
Im Herbst 1942 wird das Ghetto von nur noch 60.000 Menschen bewohnt.
Himmlers Ziel ist es, Warschau zu Hitlers Geburtstag „judenfrei“ zu bekommen. Im April 1943 wird daher die Auflösung des Warschauer Ghettos beschlossen.

Doch die im Juli 1942 gegründete jüdische Widerstandsbewegung unter der Führung von Mordechai Anielewicz, stellt sich den deutschen Besatzern am 19. April 1943 in den Weg. Über mehrere Wochen kann sich die jüdische Kampforganisation „Zydowska Organizacja Bojowa“ den deutschen Truppen entgegenstellen.
Die deutschen Besatzer können den Aufstand mit Waffen und Panzern nicht niederschlagen. Sie entschließen sich, das Ghetto durch Bomber anzugreifen. Die deutschen Bomber gehen in Höhe der Häuser nieder. Durch Brand will die deutsche Besatzung die Häuser voneinander trennen und die Menschen zwingen, aus ihren Verstecken zu kommen. Etwa 7.000 Ghettobewohner kommen durch die Bomben, durch Häuserbrand oder durch Erschießung ums Leben.

In einer Radiosendung, die der Vertrauensmann Himmlers, Dr. Ludwig Fischer – auch Henker von Warschau genannt – auf polnisch und deutsch hält, wird das Ghetto als Terrorquelle bezichtigt und seine Vernichtung gerechtfertigt. Die polnische Bevölkerung wird dazu aufgerufen, jeden noch lebenden Juden an die Deutschen auszuliefern.

Die überlebenden Ghettobewohner werden ins Vernichtungslager Treblinka und Majdanek sowie in andere Zwangsarbeitslager deportiert. Nur wenige Tausend können der Vernichtung entgehen.

© Soraya Levin