Es ist eine längst überfällige Debatte über die unbequeme historische Wahrheit, die Gabriel Berger mit seinem Buch „Umgeben von Hass und Mitgefühl“ enttabuisiert. Der Heldenmythos des widerständigen Polen, der seine jüdischen Mitbürger gerettet hat, bröckelt und zerfällt mit jeder Seite des Buches.

Für einen Moment scheint es, als ob die antisemitischen Mauern abgetragen werden könnten. Als ob das kommunistische Versprechen auf eine jüdische Gleichberechtigung sich erfüllen sollte.
Für einen Moment scheint nach der Schoah das Unfassbare möglich. Eine jüdische Siedlung in der ehemaligen Stadt Reichenbach, umbenannt in Rychbach und ab 1946 in Dzier
oniów in Niederschlesien, dem ehemaligen deutschen Reichsgebiet, welches nun zu Polen gehört.

Der polnische Jude und erste Vorsitzende des niederschlesischen jüdischen Komitees Jakob Egit hat die Vision, mit der Gründung einer autonomen jüdischen Kommune auf ehemaligem deutschen Gebiet nicht nur ein Stück Gerechtigkeit wieder herzustellen. Es geht Jakob Egit auch darum, das durch den Nationalsozialismus verloren gegangene polnisch-jüdische Zentrum wieder aufzubauen. Denn von den einst 3,5 Millionen polnischen Juden haben nur annähernd zehn Prozent die Schoah überlebt. Für diese Überlebenden ist es eine Zeit der Orientierungslosigkeit wie auch für das neue Polen. Und zum ersten Mal gibt es die große Hoffnung eigene jüdische Organisationen aufzubauen und gleichberechtigt als Pole unter Polen zu leben.

Im Mai 1945 siedeln sich bereits mehrere tausend Juden, ehemalige KZ-Häftlinge, Rückkehrer aus der Sowjetunion und die, die in den Verstecken überlebt haben, in der Stadt Rychbach an. Innerhalb von nur einem Jahr entwickelt die Stadt ökonomisch und kulturell eine erste Blüte und wird Anziehungspunkt für viele überlebende Juden.

Mit der Westverschiebung Polens und der Zuwanderung von tausenden polnischen Juden aus dem Ostteil wird Niederschlesien zu einem polnisch-jüdischen Zentrum mit dem ehemaligen Reichenbach als Hauptstadt.

Die jüdische Zuwanderung trifft in der Bevölkerung jedoch nicht auf Zuspruch. Auch die polnische Regierung unterstützt sie lediglich vor dem Hintergrund, dass sie sich bessere Verhandlungschancen bei der Debatte mit den Alliierten um die Aufteilung der Ostgebiete verspricht.

Der seit Jahrhunderten tief verwurzelte Antisemitismus in Polen bricht jetzt wieder offen aus. Nationalisten und Reaktionäre sehen die Juden weiterhin nicht als Teil Polens an. Bereits vor dem zweiten Weltkrieg radikalisiert sich die Judenfeindschaft. Die Juden werden als Bolschewisten beschimpft und als Bedrohung für den polnischen Nationalstaat empfunden. In den 1920er Jahren wird sogar von der „Entjudung des polnischen Staates“ gesprochen. Es gibt Pläne, die Juden nach Madagaskar zu verschiffen. Diesen Radikalforderungen schliessen sich Ausgrenzung, Terror und blutgetränkte Pogrome an. Auch die während des Zweiten Weltkriegs im Untergrund kämpfenden Polen sehen ihren Nationalstaat nach dem Krieg ohne eine jüdische Minderheit. Selbst die im geheimen tätige Hilfsorganisation für die Juden Zegota nimmt sich in der Haltung gegen die Juden nicht aus. Gabriel Berger weist hier explizit auf die Schriftstellerin und Mitbegründerin der Zegota Zofia Kossak-Szczucka hin, die sich zwar gegen den Mord an den Juden ausspricht, für sie jedoch nach dem Krieg keinen Platz in Polen sieht.

Die Nazis haben willfährige polnische und ukrainische Handlanger vor Ort, die ihre jüdischen Mitbürger nicht nur ausliefern, sondern sie aufs Schlimmste malträtieren, sie ausrauben und sie töten.
Die von Gabriel Berger zitierte polnische Psychologin Barbara Engerling spricht von einer vorhanden gewesenen Wahlfreiheit. Die Polen „konnten sich an der Treibjagd beteiligen, passive Zeugen sein oder aber die Rolle von Verteidigern, Helfern und Beschützern der verzweifelt nach Rettung suchenden Juden auf sich nehmen.“.

Die Mehrheit der Polen hat sich gegen die Juden entschieden. Die überlebenden jüdischen Rückkehrer sind vor dem Krieg nicht erwünscht gewesen und nach dem Krieg nicht erwünscht. Die alten Verdächtigungen und Vorwürfe des jüdischen Bolschewismus und ökonomische Interessen durch widerrechtliche Aneignung jüdischen Eigentums führen vielfach zum Mord an denjenigen, die die Hölle überlebt haben.

Das Pogrom von Kielce im Juni 1946 weist auf das gesellschaftliche judenfeindliche Klima hin. Ein aufgebrachter Mob, angestachelt von dem alten Ritualmordmythos und unterstützt von Soldaten, tötet über 40 Juden und verletzt weit über 100 Menschen. Aus Angst vor weiteren gewalttätigen Ausbrüchen verlassen tausende Juden Polen Richtung Westen und Palästina. Gabriel Berger spricht von in etwa 170 000 bis 1947.

Die neue kommunistische Regierung unterstützt zunächst offiziell die jüdische Minderheit. Die Kommunisten befürworten selbst Trainingslager für die Hagana, um die Kämpfer für einen sozialistischen Staat, gedacht als Satellit der Sowjetunion, im Nahen Osten auszubilden.

Mit der Staatsgründung Israels 1948 und der Westorientierung kommt es zum politischen Richtungswechsel. Die stalinistische Unterstützung für den neu gegründeten Staat fällt und der Zionismus wird zum Sakrileg gegenüber dem Sozialismus, das mit Todesurteilen belegt wird. Verschwörungstheorien wie das jüdische Ärzte Stalin ermorden wollen, schüren weiteren Judenhass, dessen gewalttätige Auswüchse nur durch den Tod Stalins verhindert werden. Auch Egit wird ein jüdischer Nationalismus unterstellt und er kommt in Haft mit der Begründung der staatlichen Autoritätsuntergrabung. Eine staatliche Autorität, die sich zunehmend auf ein Polen ohne Minderheiten ausrichtet. Jüdische Einrichtungen werden verboten und Egit verliert jedwede Unterstützung für die Etablierung seiner jüdischen autonomen Kommune. Er muss sein Projekt sogar selbst verleumden, um wieder frei zu kommen. Egit sieht seinen Traum von einer jüdischen Gleichberechtigung in Polen als ausweglos und gescheitert an. Mit dem Gefühl der Resignation verlässt er 1957 Polen und emigriert nach Kanada.

1967 rückt das Ziel der „Entjudung Polens“ näher. Der Kalte Krieg tobt auch im Nahen Osten. Die Sowjetunion unterstützt die arabischen Staaten. Der Ausbruch des Sechstagekrieges 1967 führt im Ostblock zum Abbruch aller diplomatischen Beziehungen mit dem Staat Israel. Den polnischen Juden wird nun wieder ein jüdischer Nationalismus unterstellt. Selbst die Studentenproteste gelten als von Juden initiiert, um den Staat zu destabilisieren. Es folgen antisemitische Kampagnen, gestärkt durch die antizionistische Staatsdoktrin, die die jüdischen Mitbürger außer Landes treiben.

Es ist weitaus mehr wie ein Stück jüdischer Nachkriegsgeschichte in Polen, die Gabriel Berger mit seinem Buch „Umgeben von Hass und Mitgefühl“ aufzeigt. Egits Engagement, Polen wieder zum jüdischen kulturellen Zentrum werden zu lassen, ist an dem dicken widerstandsfähigen Wurzelgeflecht des Antisemitismus gescheitert. Mit der ehemaligen Stadt Reichenbach hat Polen die einmalige Chance verpasst, die jüdische Minderheit nicht nur zu gleichberechtigten, sondern zu gleichwürdigen polnischen Mitbürgern werden zu lassen.

Die Gründe, die zum Scheitern der jüdischen autonomen Kommune führen, zeigen, dass die tradierten über Jahrhunderte gewachsenen antijüdischen Klischees und Stereotype weiterhin greifen. Gabriel Berger entkernt diesen Antisemitismus, indem er auf die antijüdischen polnischen Aktivitäten vor dem Zweiten Weltkrieg verweist. Er räumt mit dem polnischen widerständen Heldenmythos auf. Sicher, es hat einzelne Polen gegeben, die sich unter Todesdrohung durch ihre Mitbürger für die verfolgten Juden eingesetzt haben. Berger weist jedoch anhand der historischen Spuren nach, dass sich das Gros der polnischen Bevölkerung an der kriminellen Hitlerseilschaft beteiligt hat und zum freiwilligen Vollstrecker Hitlers geworden ist. Mit dem Nachkriegspogrom von Kielce wird die finstere Realität sichtbar. Jüdisches Leben in Polen ist auch nach dem kaltblütigen Massenmord an den Juden weiterhin kein Selbstverständnis.

Mit dem Buch wird deutlich, dass die jüdischen Überlebenden der Schoah zum Spielball der politischen Nachkriegszeit werden. Eingesetzt als Faustpfand für Gebietsansprüche und instrumentalisiert für den Kalten Krieg. Brachial in antizionistischen Schauprozessen geopfert auf dem ideologisch-antisemitischen Altar.

Der entscheidende Motor dafür, dass die Juden nicht als polnische Mitbürger gesehen werden, sondern als zerstörerische Minderheit, ist und bleibt der katholische Antijudaismus und der Antisemitismus. Die polnische Nachkriegsgesellschaft hat sich über Jahrzehnte ein Identitätskonstrukt geschaffen, das sich der ethisch-moralischen Verantwortung ihrer Mittäterschaft an dem jüdischen Völkermord mit Vehemenz verweigert.

Gabriel Berger weist auf den gesellschaftlichen Zündstoff durch die veröffentlichte Publikation „Nachbarn“ im Jahr 2001 des Historikers Jan Tomasz Gross hin. Die im Buch thematisierte polnische Beteiligung am Programm von Jedwabne 1941 stellt explizit die Frage nach der polnischen Schuld am Mord an den Juden in den Raum. Das jahrzehntelange Narrativ der polnischen heldenhaften Widerstandsnation löst sich auf. Denn sichtbar wird, dass die polnische Leidenskatastrophe unter Hitlerdeutschland nicht die Leidenskatastrophe der jüdischen Polen mit einbezieht. Nicht nur Buchveröffentlichungen, sondern auch Filme wie der von Berger angeführte Film „Ida“, der sich mit der polnischen Verantwortung und Teilhabe an dem Judenmord auseinandersetzt, entpuppen sich als gesellschaftlicher Sprengstoff. Die Filminhalte werden nicht nur negiert, sondern im vorgeschalteten Vorspann als falsch deklariert.

Gabriel Berger fragt nach dem polnischen Selbstbild und hegt am Ende ein wenig Hoffnung. Er sagt, das Interesse an der jüdischen Kultur wächst. Museen entstehen wie das Museum für die Geschichte der polnischen Juden, das sich mit dem über Jahrhunderte währenden jüdisch-polnischen Zentrum beschäftigt. In einem Teil wird auf den Holcocaust und die polnische Mitwirkung eingegangen. Berger schreibt, dass dieser Teil für die meisten Polen belanglos ist. Das alte Narrativ greift weiter wie die Diskussion um die Errichtung eines Heldendenkmals in unmittelbarer Nähe zum Museum zeigt. Berger verweist auf philosemitische Entwicklungen bei gleichzeitigem Bekenntnis, dass „Juden nicht Einheimische, sondern Gäste seien;“. Ein Punkt, den der Autor in seiner Anmerkung zum Roman „Das Glück hat mich umarmt“ nochmals bestätigt. Bereits sein Vater hat sich in Polen als ein „ungebetener Fremder“ gefühlt. Ein Hinweis darauf, dass es zwischen der Nachkriegszeit und dem Heute keine Veränderung im Hinblick auf die jüdische Minderheit gegeben hat.

Insbesondere Gabriel Bergers im Buch genanntes Beispiel von dem stereotypen jüdischen Glücksbringer, der den geldgierigen Juden darstellt, verweist auf diesen antisemitischen Stillstand. Auch wenn Berger die kleinen jüdischen Gemeinden als Lichtblick sieht, zeigt doch gerade die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit, dass der wiederentdeckte polnische Nationalismus keine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus duldet und die Judenfeindschaft eher wieder angestachelt wird. Nicht umsonst arbeitet die polnische Antidiffamierungsliga gegen Publizisten wie Jan Gross. Eine wie von Berger für möglich gehaltene Katharsis der polnischen Bevölkerung ist nicht sichtbar.

Bergers Buch ist ein wichtiger Beitrag, um die polnischen Verstrickungen in die Hitlerbarbarei an den Juden sichtbar zu machen. Es ist ein Weckruf gegen den schwelenden Antisemitismus, der sich verpackt im Antizionismus, vorzugehen. „Umgeben von Hass und Mitgefühl“ ist zudem ein Appell an die Notwendigkeit, sich an die schwer belastete Geschichte zu erinnern. Denn sich erinnern heißt, sich dem blutgetränkten Erbe zu stellen. Wie sich erinnert wird, ist ein Abbild der gesellschaftlichen Realität.

Gabriel Berger, Umgeben von Hass und Mitgefühl, Jüdische Autonomie in Polen nach der Shoah 1945-1949 und die Hintergründe ihres Scheiterns, Taschenbuch, 200 Seiten, Lichtig Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3929905366, 14,90 EUR

© Soraya Levin