Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand

Haben wir nicht schon genug über Antisemitismus gesprochen? Nein, denn der europäische Antisemitismus nimmt Fahrt auf.
„Du Jude ist heute das häufigste Schimpfwort an deutschen Schulen“, sagt die Professorin Julia Bernstein von der University of Applied Sciences Frankfurt. Dieses Schimpfwort ist kein sprachliches Stilmittel, sondern Ausdruck von Antisemitismus. Ein Antisemitismus, der laut dem Focus vom Mai 2021 bereits die Dimension eines „Pulverfasses“ hat. 

Der Politikwissenschaftler Matthias Küntzel hat sich mit dem muslimischen Antisemitismus beschäftigt, der fast komplett aus dem öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs ausgeblendet wird. In seinem Buch Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand geht er genau dieser Frage nach und analysiert dessen Entstehungsprozess. Er betrachtet die Kontinuität und die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Bedrohungen und Handlungsoptionen.

Infiziert vom Judenhass werden Israelfahnen und Davidsterne verbrannt, erfolgen Rufe wie „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“, finden Prügelattacken gegenüber sich zu erkennen gebenden Juden sowie Anschläge wie auf die Synagoge in Halle 2019 statt. Ein Antisemitismus, der sich in der Breite der Bevölkerung platziert und in einer pluralen Gesellschaft wie der unsrigen, die immer multikultureller wird, unterschätzt wird. Doch gerade die Frage nach Antisemitismus bei Menschen mit islamischen Hintergrund ist ein sensibles Feld, das laut Matthias Küntzel weitestgehend umgangen wird.

Dabei ist die  Analyse ein wichtiges Instrument, denn wenn die Ursprünge nicht verstanden werden, bleibt für Küntzel die Frage offen, wie wir Auswirkungen wie in Frankreich, die bis zum Mord an Juden reichen, in Deutschland verhindern können. Diese Frage ist insbesondere vor dem Hintergrund der Flüchtlingszuwanderung aus dem arabischen Raum von Bedeutung.

Der Autor zeigt sachlich begründet in fünf Kapiteln die Entwicklung des islamischen Antisemitismus auf. Trotz der wissenschaftlichen Herangehensweise ist das Buch interessant und anregend geschrieben, da auf eine akademisierte Sprache verzichtet wird. Dadurch bleibt es gut lesbar.

Matthias Küntzel verdeutlicht, dass mit der Hetzschrift „Islam - Judentum“ der ursprünglich religiöse Antisemitismus mit dem politischen aus Europa kommenden Antisemitismus verschmolz und damit die Wende hin zum islamischen Antisemitismus vollzogen wurde.
Das Pamphlet, das 1937 in Kairo veröffentlicht wurde und Mohammed Amin al-Husseini zugeschrieben wird, ist im Anhang des Buches nachzulesen. 
Die Schmähschrift ist eine einzige antisemitische Hetze. Der Jude als geizig, hinterhältig, ein Verräter, ein Unruhestifter, ein Mörder, der selbst vor dem Prophetenmord nicht zurückschreckt, den es zu vernichten gilt, da er nicht änderungsfähig ist. Eine antisemitische mystische Propaganda, die sich bis heute hält.

Mohammed Amin al-Husseini, der Großmufti von Jerusalem ist voller Judenhass und hängt den Juden an, dass sie die religiösen islamischen Stätten wie die Al-Aqsa-Moschee zerstören wollen. Der identitätsstiftende Ruf „Al-Aqsa ist in Gefahr!“ schweißt die Moslems zusammen und motiviert sie zum Hass auf die Juden. 
Sein Judenhass treibt ihn in die Arme der Nazis. So bemühen sich jetzt beide Seiten um die Vernichtung der Juden. Denn im frühen Islam musste der Jude unterdrückt werden, jetzt muss er - und nach der Staatsgründung Israels auch Israel - vernichtet werden, da der Jude laut dem konstruierten Narrativ die Moslems vernichten möchte.

Diesem Pamphlet folgten weitere Schriften, die die Wende zum islamischen Antisemitismus verdeutlichen. Küntzel führt an dieser Stelle Sajjid Qutb antisemitischen auf Verschwörungmythen basierenden Aufsatz „Unser Kampf mit den Juden“ an und die immer noch bestehende Charta der radikal-islamischen Terrorgruppe Hamas, mit dem genannten Ziel der Vernichtung des Staates Israel.

Sajjid Qutb gehörte der radikalen Muslimbruderschaft an. Es ist für Küntzel völlig unverständlich, weshalb in Deutschland Organisationen, die nicht auf dem Boden unserer freiheitlichen Demokratie stehen und eindeutig dem radikalen Islam zuzuordnen sind, finanziert werden. Dazu gehören unter anderem Milli Görüs und die der Muslimbruderschaft nahestehende Einrichtung wie das Islamische Zeitrum Hamburg e.V.
Der Autor merkt an, dass Vertreter eines modernen Islam wie zum Beispiel Ahmad Mansour bei der Politik kaum Gehör finden. 

Küntzel zeigt auf, dass es Hetzschriften, die den Antisemitismus nicht mehr religiös begründeten, bereits im europäischen Raum gab. So verbreitete der Antisemit Wilhelm Marr, dass die Juden über die Germanen siegen wollten. Die Juden wurden zum Sinnbild für alles Negative wie dem Zerfall von Gesellschaftsstrukturen, Krisen, Rückgang der Nationen, Ausbeutung.
In die gleiche Kerbe schugen die Protokolle der Weisen von Zion, dessen Verbreitung nach dem verlorenen Sechs-Tage-Krieg von dem ägyptischen Staatspräsidenten Nasser wieder richtig in Gang gebracht wurde.

Der Autor verdeutlicht, dass es Mohammed Amin al-Husseini war, der den bereits 1937 vorgeschlagenen Teilungsplan der Peel-Kommission für Palästina ablehnte. Die gemäßigten Kräfte bemühten sich vergeblich und konnten sich aufgrund des Terrors durch den Großmufti von Jerusalem nicht durchsetzen. So wurde die friedliche Chance für die Errichtung eines jüdischen und eines arabischen Staates verhindert. Der 1937 in Bludan stattfindende panarabische Kongress trägt weiter zur Verbreitung der antisemitischen Hetzschrift des Großmuftis und Nazi-Deutschlands bei.

Für Matthias Küntzel ist diese antisemitische Hetzschrift ein eindeutiger Beleg dafür, dass die These, dass die Staatsgründung Israels für die Ausbildung des Antisemitismus im arabischen Raum verantwortlich ist, nicht haltbar ist. Denn der islamische Antisemitismus entstand ja bereits im Jahr 1937.

Zur Verbreitung trug massiv die von 1939 bis zum Jahr 1945 betriebene Radiopropaganda aus Zeesen bei. Ein unscheinbarer Sender in der Nähe von Berlin mit einer großen Wirkung in die arabische Welt. Hier ging es allabendlich um Muslime, Koranverse und massiven Judenhass. Ein Judenhass, der zu Pogromen führte. Küntzel sagt, dass dieser antisemitische Propagandazug bis heute in der arabischen Welt seine Wirkung entfaltet. Antisemitismus ist ein Bestandteil des Alltags und wird durch globale Prozesse wie die Medien und durch Migration verstärkt nach Europa gebracht. 

Küntzel stellt die These auf, dass es eine signifikante antisemitische Korrelation zwischen der Nazi-Radiopropaganda und des israelischen Unabhängigkeitskrieges von 1948 gibt. Er zieht daraus den Schluss, dass die treibende Kraft des Nahost-Konfliktes nicht die Staatsgründung Israels gewesen ist, sondern der islamische Antisemitismus.

Der Nahost-Konflikt, dessen Antisemitismus hierzulande sich oftmals hinter dem Begriff Zionismus versteckt. Der Nahost-Konflikt, der durch antisemitische Migranten missbraucht wird, um ihre Ideologie zu transportieren.

Der Autor zeigt weiterhin auf, dass für Terror und Antisemitismus der Islamismus verantwortlich gemacht wird. Der Islam wird hierbei aus falsch verstandener Rücksicht in der Politik und selbst von Forschungsinstituten ausgeblendet. Gewisse Worte wie Islam oder islamischer Antisemitismus sind tabu. Sollten sie dennoch benutzt werden, wird Islamophobie unterstellt.

Dass der rechte politische Rand wie die AFD sich dieses Themas annimmt, ist laut Küntzel beschämend. Denn wenn die AFD fordert, die radikal islamische Hisbollah zu verbieten und dieses von unseren Parteien der Mitte abgelehnt wird, wie Küntzel es ausführt, ist diesem meines Erachtens nicht nur mit Unverständnis zu begegnen, sondern wir müssen empört sein und unserer Empörung Ausdruck verleihen. 

Die vielfache Beschwichtigungspolitik, die einerseits vielleicht aus politisch-taktischen Gründen erfolgt, ist dann doch meines Erachtens eher ein Ausdruck eines sekundären weiterlebenden Antisemitismus.

Auch widerlegt Küntzel die von dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Felix Klein vertretende These, dass mangelnde Integration zu Unzufriedenheit führt und Unzufriedenheit zu Antisemitismus. Das Pamphlet „Islam - Judentum“ von 1937 legt den Umkehrschluss nahe, dass es völlig egal ist, ob es Israel gibt oder nicht, sagt Küntzel. Der Judenhass bleibt. 

Matthias Küntzel stellt sich die Frage, ob es ideologische Gründe sind, die das Festhalten an dem altbewährten Bild, das böse Israel und der böse Jude haben den arabischen Antisemitismus selbst produziert, bedingen.

Wenn Küntzel damit recht haben sollte, dann handelt es sich bei der Ideologie derer, die an dem altbewährten Bild festhalten, eindeutig um Antisemiten. Denn ansonsten muss zwingend wie Küntzel es auch sagt, die Nahostpolitik ganz anders betrachtet und neu gedacht werden. Wird sie aber nicht, da selbst das Bundesamt für Verfassungsschutz und das Berliner Antisemitismuszentrum die Staatsgründung Israels als auslösendes Moment für den Antisemitismus sehen. 

Wenn selbst anerkannte Forschungsinstitute sich mit der Thematik nicht auseinandersetzen wollen - denn von Wissenschaftlern sollte man Zivilcourage und Forschergeist erwarten - können Lehrkräfte dieses Thema in der Schule kaum auf einer wissenschaftlich anerkannten Faktenbasis behandeln, auch wenn Küntzel dieses fordert.  Ebenso durchzieht sich in der Schulbuchlandschaft bei der Darstellung des Nahost-Konfliktes leider dieser von Küntzel angesprochene Weg einer Realitätsnegierung. Küntzel sagt, dass Deutschland sich nicht an das Thema herantraut. Damit verhält er sich sehr wohlwollend gegenüber denjenigen, die in Forschung und Politik Verantwortung tragen. Denn wenn es sich gar nicht darum handelt, sich etwas zu trauen, dann kann es sich nur um Antisemitismus handeln. Ja, an dieser Stelle stelle ich die moralische und politische Integrität dieser Personen, auch wenn es deren Selbstkonzept nicht entspricht, in Frage.

Die von Küntzel angesprochene Appeasementpolitik, die gerade zur Verbreitung des Antisemitismus führte, weil die politisch Verantwortlichen während des zweiten Weltkriegs und danach keine Freunde der Juden sein wollten, verdeutlicht deren Grundhaltung, die sich kontinuierlich fortsetzt, indem lediglich der Islamismus als Problem gesehen wird, obwohl eine judenfeindliche Polemik innerhalb des islamischen Raumes offen ausgedrückt wird. Küntzel führt  an dieser Stelle den türkischen Präsidenten Erdogan sowie den iranischen Präsidenten an. Die deutsche Mitte und Intellektuelle drücken sich hingegen verdeckt und eher metakommunikativ aus. Die Synergien des islamischen mit dem im Land vorherrschenden Antisemitismus zeigen sich darin, dass beide Ausrichtungen kulturell verwurzelt in ihrem Judenhass sind.

Der antisemitische Diskurs ist meines Erachtens in diesem Feld unter mehreren Aspekten zwingend notwendig: Erstens sind wir aufgrund unserer Vergangenheit historisch in der Verantwortung Antisemitismus, wo er denn auftritt, entgegenzuwirken. Zweitens sind wir als Demokraten mitverantwortlich für die friedliche und soziale Koexistenz pluraler Bevölkerungsgruppen, denn ansonsten rutscht uns unsere Demokratie weg. Und drittens haben wir die Grundwerte einer freiheitlichen Demokratie zu verteidigen und dürfen Ideologen - ob politisch oder religiös - keinen Raum für ihren Hass geben.

Es stellen sich viele Fragen, die Küntzel mit seinem Buch stellt. Warum liegt bis heute das Buch der Mitschnitte über den Radiosender in Zeesen von Jeffrey Herf nicht in deutscher Übersetzung vor?  Meiner Einschätzung nach ist dieses ein Hinweis auf das unwürdige Selbstverständnis in der Auseinandersetzung mit dem Thema Judenhass. Warum lassen wir über ausländische Sender eine antisemitische Hetze zu und warum sind die Bewertungsprozesse in der Mitte der Gesellschaft überwiegend einseitig in der Schuldfrage, was den Nahost-Konflikt betrifft? Diese Fragen stellen meines Erachtens ein eindeutiges Zeugnis eines sich verfestigten antisemitischen Denkmusters dar. 

Es bleibt offen, wie wir als Gesellschaft auf eine derartige brisante Formation gegen die jüdische Existenz, die sich zum einen aus der Schuldabwehr speist und zum anderen durch ihre Projektion auf den Staat Israel nährt, auf Dauer reagieren.

Es ist aufgrund der Bedrohung keine Ermessensfrage mehr, die zur Beschönigung neigt, sondern ein zentrales gesellschaftliches und leicht entflammbares Problem. Hier wegzuschauen gehört zu den Absurditäten, die sich rächen werden und die wir uns im Umgang mit dem Antisemitismus nicht erlauben können. Islamophobie ist hierbei das falsche Etikett.

Matthias Küntzel, Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand, 1. Auflage 2019 Hentrich & Hentrich Verlag Berlin Leipzig, ISBN 978-3-95565-347-7

© Soraya Levin