"Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein." Dieser Aufforderung des deutschen Schriftstellers Kurt Tucholsky sind während der NS-Diktatur nur Wenige nachgekommen. Am Ende sah die Konstruktion der vermeintlichen „Heldenzahlen“ jedoch ganz anders aus. So auch im Auswärtigen Amt, das nach 1945 im eigenen sowie im Bewusstsein der Öffentlichkeit das Bild eines umfassenden diplomatischen Widerstands etablierte.

Die Herausgeber Jan Erik Schulte und Michael Wala untersuchen in ihrem Buch Widerstand und Auswärtiges Amt. Diplomaten gegen Hitler gemeinsam mit Historikern, Politik- und Sozialwissenschaftlern sowie Journalisten die diplomatische Wirklichkeit. Analysiert wird das widerständige Verhalten einzelner Diplomaten, das den Mythos eines breit gefächerten Widerstands innerhalb des diplomatischen Korps enttarnt. In den Fokus gerückte Lebensläufe der Diplomaten und hier erstmals auch historisch bislang nicht berücksichtigte Personen, zeigen Prozesse widerständigen Verhaltens sowie die Prozesse der Mittäterschaft auf. Es geht um die Hauptursachen für geleisteten und nicht geleisteten Widerstand sowie um die Verweigerungshaltung, den tatsächlichen Widerständigen Respekt im Nachkriegsdeutschland zu zollen. Um überhaupt eine Beweisführung aufgrund des nicht vorhandenen Widerstands im Auswärtigen Amt zu ermöglichen, das der Autor Martin Kröger sogar als „Drittes Reich“ bezeichnet, wird das Spektrum des Widerstandsbegriffs von den Herausgebern sehr weit gefasst.

Bereits der Rücktritt gilt daher als Widerstand. Einzig Friedrich von Prittwitz und Gaffron macht sich nicht zum Kollaborateur des antidemokratischen Nazi-Systems. Nach der Märzwahl 1933 verbleibt er durch freiwilligen Rücktritt nicht mehr im diplomatischen Dienst. Sein rationales Handeln ist vor dem Hintergrund seines demokratischen Bewusstseins nur konsequent. Er zeigt die politische Weitsichtigkeit, die von Diplomaten zu erwarten ist. Als Beteiligter am Kellog-Briand-Pakt sieht er das Ziel der Kriegsverhinderung mit Aufkommen der Nationalsozialisten scheinbar bereits gescheitert. Sein Kassandraruf an Lion Feuchtwanger im Januar 1933 lieber in den USA zu bleiben, ist deutend.

Einer derjenigen, der noch nicht einmal zu den Spitzendiplomaten zählt, der nicht zurücktritt, sondern unter Lebensgefahr als Spion unter dem Tarnnamen George Wood agiert, ist Fritz Kolbe. Als Mitarbeiter von Karl Ritter, dem Mittler zwischen dem Außenministerium und dem Oberkommando der Wehrmacht, sind ihm die geheimen Meldungen zugänglich. Als Demokrat fühlt er sich verpflichtet, seine Loyalität gegenüber dem NS-System aufzulösen. Hilfe gegen das verbrecherische System verspricht er sich von den Alliierten, die ihn als „beste Informationsquelle des Krieges bezeichnen.“.

Nicht als Spion sondern außerhalb Deutschlands und öffentlich agiert Otto von Strahl. Mit seiner Autobiografie "Seven Years as a Nazi Consul" beschreibt er detailliert die Funktionen und Mechanismen des NS-Systems.

Auch Hans Bernd von Haeften sieht sich der Loyalität dem NS-System gegenüber nicht mehr verpflichtet. Er schließt sich dem Kreisauer-Kreis an, in den er seine diplomatischen Kenntnisse für ein neugeordnetes Deutschland mit einbringt. Doch der Kreisauer-Kreis bildet keinen festen Widerstandsblock. Es ist vielmehr ein Agieren einzelner, die auf die nationale Umwälzung warten und ihren Widerstand auf die Zeit danach ausrichten. Ebenfalls zum Kreisauer-Kreis zählt Adam von Trott zu Solz, der jedoch auf die militärische Überwindung des NS-Systems von oben setzt und sich der Gruppe um Stauffenberg annähert.

Anderen wie Ernst von Weizsäcker geht es um ein Wiedererstarken des Großdeutschen Reiches. Ein Krieg wäre für diese revisionistische politische Zielsetzung kontraproduktiv. Daher versorgen sie Großbritannien mit Informationen, die das Königreich für sich nutzen kann, um politischen Druck auszuüben.

Der Lehrbeauftragte am Historischen Institut der Universität Potsdam Lars Lüdicke bezeichnet dieses als "ein dysfunktionales Verhalten im Staate Hitlers, für das der Widerstandsbegriff nur bedingt zutreffend ist.".

Ein Blick auf die Verhaltensweise dieser Diplomaten verdeutlicht diesen Aspekt. Im preußisch-traditionellen Bewusstsein nationalkonservativ geprägt, stehen sie den demokratischen und liberalen Grundsätzen der Weimarer Republik distanziert bis ablehnend gegenüber. Der autoritäre Führungsstaat des NS-Regimes bietet einen revisionistischen Nährboden für ihre nationale Treuepflicht und ihren traditionell verankerten antisemitischen Habitus. Daher war für keinen „die Judenpolitik des Regimes ein entscheidender moralischer und rechtlicher Faktor, der sie gegenüber dem Naziregime zurückweichen ließ.“, der sie zur Triebfeder für die diplomatische Beihilfe an der Entrechtung und der Ermordung der europäischen Juden macht. Francis von Nicosia, Professor für Holocaust-Studien ordnet das Verhalten dieser Wissenselite folgendermaßen ein: „Weder vor noch nach 1945 begriffen sie die moralische Ungeheuerlichkeit der Behauptung des Versuchs, die nationalen Interessen Deutschlands zu vertreten, indem sie einem mörderischen Regime dienten.“.

Sichtbar wird diese „moralische Ungeheuerlichkeit“ im Wilhelmstraßenprozess am Beispiel von Ernst von Weizsäcker. Der wirkliche Widerständler wird pervertiert mit der Bewertung der eigenen Handlung als widerständig. Der angelegte eigene Maßstab heißt frei von Schuld zu sein, da die Handlungsmaxime ihrer Mittäterschaft einzig aus der sittlichen Pflicht heraus erklärt wird, die letztlich eine noch größere Katastrophe verhindert hat. Eine zynische Gesinnungsethik, die die Autoren verdeutlichen und die die Frage des Autors Dirk Pöppmann nach sich zieht, ob von Weizsäcker „nicht nur eine rechtliche, sondern zugleich eine umfassende moralische Rehabilitation zu erwirken?“ versucht.

Um welche moralische Rehabilitation soll es sich aber handeln? Schon mit der Unterzeichnung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums durch Ernst von Weizsäcker wird die ruchlose antisemitische Gesinnung deutlich.

Alle grundsätzlichen Direktiven der Judenpolitik und zahlreiche Berichte der Einsatzgruppen gingen unbestreitbar über die politische Abteilung des Auswärtigen Amtes, das diese gegenzeichnete. Ein unbeflecktes Mitwirken an der Vernichtungsmaschinerie ist daher nicht gegeben, da die mörderische Triebkraft nicht nur begleitet, sondern erst gefestigt und gestützt wird. Ohne das Zutun der Diplomaten des Auswärtigen Amtes können in den besetzten Ländern die Deportationen nicht durchgeführt werden.

[...] Diejenigen, die es begriffen hatten, wie etwa Fritz Kolbe, und die deshalb mit den Alliierten zusammenarbeiteten, um die deutsche Niederlage herbeizuführen, wurden im Krieg und danach von den traditionellen Diplomaten nicht als heroische Widerständler betrachtet, sondern als Verräter,...", sagt der Autor Francis von Nicosia.

Die traditionellen Diplomaten konstruieren sich selbst hingegen ein widerständiges Opferbild, das sie moralisch aufwertet und ein Schuldgefühl erst gar nicht aufkommen lässt. Das neue Opferkartell relativiert seine Verbrechensbeteiligung durch Argumente wie die Notsituation habe einen schweigenden Widerstand erfordert, der das NS-System aushöhlen sollte. Man befand sich im Gewissenskonflikt zum Treueeid auf den Führer. Die führenden Köpfe des nationalsozialistischen Systems und ihrer Organisationen sind schuld. Ein derartiges Opferbild überlagert die Sicht auf die tatsächlichen Widerständigen und gibt ihnen keinen Platz im kollektiven Gedächtnis.
Diese Platzierung der Opferidentität macht die Verbrechen zur Tat von einer Minderheit und den Widerstand zur Tat von einer Mehrheit. Diese Platzierung generiert zudem den Fortbestand der alten nicht widerständigen Funktionseliten im neuen „alten“ Auswärtigen Amt.

Widerstand und Auswärtiges Amt. Diplomaten gegen Hitler legt den Mythos vom Auswärtigen Amt als Widerstandszentrum frei. Es zeigt, dass nur wenige Diplomaten aus Menschlichkeit heraus gegen die Rassepolitik Widerstand leisteten. Der aktive Widerstand der Männer des 20. Juli 1944 gehört nicht in die Kategorie Widerstand gegen ein menschenverachtendes System. Nicht der Humanismus bewog zum militärischen Aufbegehren, sondern das Scheitern Hitler-Deutschlands und der Versuch, der bereits auf der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 geforderten bedingungslosen Kapitulation entgegenzuwirken.

Die Beiträge der Autoren verdeutlichen, dass der Vernichtungsprozess gegen die europäischen Juden ein organisiertes Handeln verlangte, bei dem die überwiegende Mehrheit der Diplomaten des Auswärtigen Amtes nicht nur mitwirkte, sondern das System überhaupt erst ermöglichte.

Wie schon Raul Hilberg in Die Vernichtung der europäischen Juden formuliert "Der deutsche Täter war kein besonderer Deutscher. Was wir hier über seine Moral zu sagen haben, trifft nicht auf ihn speziell, sondern auf Deutschland insgesamt zu. [...] Der deutschen Vernichtungsmaschinerie wurden keinerlei Hindernisse in den Weg gelegt. Kein moralisches Problem erwies sich als unüberwindlich. Auf den Prüfstand gestellt, gab es unter den Beteiligten nur wenige Zögernde und so gut wie gar keinen Deserteur. Das sittliche Erbe gelangte nirgendwo zum Durchbruch." Der Autor und ehemalige Korrespondent von Le Mont in Deutschland Lucas Delattre bestärkt diesen Aspekt mit folgenden Worten:
„Fritz Kolbe ist der Beweis dafür, dass jeder in Deutschland etwas gegen Hitler unternehmen konnte und das es trotz des Terrors Alternativen zur widerstandslosen Anpassung an das Regime gab.“

Die Herausgeber Jan Erik Schulte und Michael Wala haben gemeinsam mit den Autoren die Seifenblase vom Auswärtigen Amt als Widerstandszentrum gegen das NS-System platzen lassen. Auch wenn der Widerstandsbegriff sehr unscharf gefasst ist, lässt er Raum für die Einschätzung der handelnden Diplomaten und verdeutlicht den mühsamen Weg, die opfergestützte Identitätsbildung zu verlassen und den tatsächlichen Widerständigen und ihrer moralischen Haltung Respekt zu zollen.

Erik Schulte (Hrsg.), Michael Wala (Hrsg.),Widerstand und Auswärtiges Amt. Diplomaten gegen Hitler, gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 352 Seiten mit Abbildungen, 2013 by Siedler Verlag München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 24,99 [D] | 25, 70 [A] | CHF 35,50, ISBN 978-3-8275-0015-1

© Soraya Levin