Rassismus als flexible symbolische Ressource

"Die Würde des Menschen ist unantastbar". So sagt es der Artikel 1, Abs. 1 unseres Grundgesetztes. Rassismus ist eine schwere Verletzung dieses unveräußerlichen Rechts. Wie verhält es sich nun aber heute mit dem Rassismus in Deutschland? Er hat sich seit der Rassismusdebatte nach 1945 gewandelt und er ist erfolgreich. Politische Themen wie Asylrecht, Migranten, die Zunahme von rechter Gewalt mit der Wiedervereinigung machen den Erfolg des Rassismus deutlich.

Dieses veranlasst die deutschen Sozialwissenschaften in den 90er Jahren dazu, sich dem Thema wieder zu widmen. Es werden Fragen wie diese diskutiert:

  • Wie verhält es sich mit dem Rassismus in unserer Gesellschaft?
  • Ist es ein Problem von Einzeltätern, von Jugendlichen, die der rechten Szene angehören?
  • Wie lässt sich Rassismus bestimmen?
  • Wo wird er sichtbar?
  • Wie entstehen rassistische Haltungen?
  • Worin liegt eigentlich der "Erfolg" des Rassismus?

Theoretische Ansätze aus den ehemaligen Kolonialstaaten dienen als Diskussionsvorlage. Schließlich haben diese Länder Erfahrung mit unterschiedlichen Ethnien und der Rassismusproblematik. Zahlreiche Theoretiker geben nun hierzu Erklärungsversuche ab. Man ist sich in einem Punkt einig. Man will die Rasse nicht mehr als biologische Einheit sehen und verabschiedet sich vom herkömmlichen Rassismusbegriff. Zwei Richtungen werden in der Debatte deutlich. Die eine Richtung geht davon aus, dass Vorurteile und Krisen ein Wegbereiter für Rassismus sind. Die aus dem anglo-amerikanischen Raum kommende Richtung, wozu Vertreter wie Robert Miles und Stuart Hall gehören, richtet den Blick hingegen auf Personen innerhalb des gesellschaftlichen Rahmens. Das heißt, der geschichtliche Hintergrund, die Gesellschaft wie sie sich präsentiert und die politischen Strukturen sind für die Entwicklung von Rassismus entscheidend. In Deutschland hat diese Blickrichtung bislang keine Tradition in der Rassismusforschung gehabt.

  • Die Theorien geben jedoch lediglich Antworten auf Teilbereiche. Was sie bislang nicht klären können, ist die Frage, warum sich Rassismus in der Gesellschaft immer wieder in Form von rassistischen Sprüchen oder auch Gewaltausbrüchen niederschlägt. Warum ist der Rassismus innerhalb einer Gesellschaft so erfolgreich?

Die Zielsetzung der rassismustheoretischen Studie von Karin Scherchel knüpft an dieses Defizit an. Ausgangspunkt ihrer Studie ist, dass der Rassismus im Alltag in unterschiedlichen Bildern gegenüber Fremden auftritt. Karin Scherchel möchte wissen, wie sich der Rassismus im deutschen Alltag darstellt, wie er sich äußert. Sie entwickelt daher einen rassismustheoretischen Interpretationsansatz als methodischen Zugang, um die rassistischen Alltagsäußerungen innerhalb der Gesamtgesellschaft wissenschaftlich zu erfassen. Karin Scherchel entwirft ihre Studie in zwei Schritten. Im ersten Schritt befasst sie sich mit den Merkmalen des Rassismus. Im zweiten Schritt bestimmt sie den Begriff, mit dem die alltägliche Wahrnehmung des Rassismus geortet werden kann. Insgesamt umfasst die Studie fünf Kapitel.Karin Scherchel setzt sich im ersten Kapitel mit bekannten Rassismuskonzepten auseinander. Indem sie zwei unterschiedliche Ansätze - nämlich den sozialpsychologischen und den ideologietheoretischen - gegenüberstellt, macht sie deutlich, wie schwierig es ist, Rassismus begrifflich zu orten. Um dieses Dilemma zu umgehen, bestimmt sie den Rassismus als flexible Ressource.Die Autorin räumt ein, dass der ideologietheoretische Ansatz zwar schon einen Beitrag in die Richtung der Bestimmung rassistischer Phänomene leistet, aber einige Bereiche wie die unterschiedlichen Akteurs- und Wahrnehmungsebenen außer Acht lässt. Daraus folgert sie, dass der Rassismus sich nicht auf die ideologietheoretische Perspektive reduzieren lässt. Aus diesem Grund nimmt sie in Kapitel zwei Bourdieus Konzept, dass sich mit der Entstehung von sozialer Ungleichheit und symbolischer Macht beschäftigt, zu Hilfe und verbindet beide Konzepte miteinander.

Anhand des Gruppendiskussionsverfahrens stellt Karin Scherchel im dritten Kapitel den methodischen Zugang zur Bestimmung der unterschiedlichen Akteurs- und Wahrnehmungsebenen her. Mit der dokumentarischen Interpretation und der Grounded Theory liefern sich ihr zwei methodische Instrumente, um den alltäglichen Rassismus in unterschiedlichen Milieus zu verdeutlichen.

In Kapitel vier präsentiert die Autorin ihre Befunde. Mit Kapitel fünf nimmt Karin Scherchel nochmal eine Skizzierung ihrer Theorie und Darstellung ihrer Ergebnisse vor.

Inhalt

Rassismus ist begrifflich schwer zu fassen. Mit dieser Problematik leitet Karin Scherchel ihre Studie über rassistische Argumentationsfiguren ein. Sie verdeutlicht das Dilemma, in dem sie zwei unterschiedliche rassismustheoretische Richtungen gegenüberstellt. Die eine Richtung beschäftigt sich mit dem Individuum und Vorurteilen und firmiert unter dem Namen sozialpsychologische Ansätze. Die andere Richtung betrifft die ideologietheoretischen Ansätze. Sie betonen, dass rassistische Argumentationen und Handlungen nicht im einzelnen Menschen verankert sind. Sie werden vielmehr durch das gesellschaftliche Zusammenleben und die Festlegung, wer zur eigenen Gruppe gehört und wer nicht, bestimmt. So findet Ausgrenzung statt. Passt sich der Einzelne dem gesellschaftlichen Ordnungsprinzip an, so beteiligt er sich an der Diskriminierung ethnisch Anderer.

Nach Ansicht der Autorin drängen die sozialpsychologischen Ansätze die gesellschaftliche Dimension des Rassismus an den Rand, da rassistische Phänomene als Problemlagen Einzelner betrachtet werden. Die Autorin knüpft daher an die ideologietheoretischen Konzepte von Miles, Balibar und Hall an. Diese finden ihren theoretischen Zugang nicht nur im historischen Bereich wie z.B. dem deutschen Faschismus, sondern betrachten auch andere Merkmale rassistischer Phänomene.

Karin Scherchel gibt zunächst einen Einblick in das Konzept von Miles, der Rassismus historisch herleitet und ihn als ideologisches Phänomen begreift. Rassistische Entwicklungsprozesse und Handlungen werden bei Miles unter dem Begriff der Ein- und Ausgrenzung gefasst. Rassismus ist für ihn ein fortwährend gewachsener Prozess. Der sozialen Gruppe werden biologische und kulturelle negative Eigenschaften zugewiesen. Die entstandenen Bilder über den ethnisch Anderen werden fortwährend angepasst und weitergegeben. Ideologisch wird so die soziale Gruppe als Bedrohung empfunden. Ein- und Ausgrenzung sind die Folge.

Da der kulturelle Rassismus bei Miles kaum Berücksichtigung findet, lässt Karin Scherchel das Konzept des Neorassismus des französischen Philosophen und Rassismusforschers Etienne Balibar mit einfließen. Nach Balibar handelt es sich bei dem Neorassismus um einen Rassismus, der nicht mehr biologisch begründet wird. Als unüberwindbare Hürden erweisen sich vielmehr die kulturellen Grenzen wie zum Beispiel Sitten, Lebensgewohnheiten, Sprache. Diese werden zu unveränderlichen Merkmalen.

Da die ideologieorientierten Ansätze in ihren Erklärungen dazu neigen, Individuen mit rassistischen Einstellungen ein krankhaftes oder falsches Bewusstsein zu unterstellen, das Verhältnis von Macht und Herrschaft aber nicht komplex erfassen, führt die Autorin Stuart Hall mit in ihren Entwicklungsprozess ein. Für Hall liegt der Ausgangspunkt für Rassismus in einem Geflecht von Ideologie, Wirtschaft, Politik und Macht. Die Gesellschaft hat eine feste Struktur, in der sich die Gruppen positionieren. Die Autorin hat am Ende der konzeptionellen Auseinandersetzung drei Merkmale des Rassismus ermittelt. Der ethnisch Andere, die Naturalisierung, die sich ausdrückt in der Unvereinbarkeit von unterschiedlichen Lebensgewohnheiten und die Herabwürdigung. Das erste Kapitel beendet Karin Scherchel mit einer begrifflichen Festlegung für Rassismus als flexible Ressource. Mit Hilfe dieser Merkmalsbestimmung für Rassismus möchte die Autorin die Wahrnehmungen des Rassismus im Alltag der Individuen erfassen.

Karin Scherchel räumt ein, dass die bisherigen Ansätze der Darstellung des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs nicht gerecht werden, da sie die machttheoretische Perspektive nur andeuten. Um zu einem differenzierteren Rassismusbegriff zu gelangen, fügt sie im Kapitel zwei die Theorie der symbolischen Gewalt von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu mit hinzu. Diese ermöglicht eine Einordnung des Rassismus in ein Konzept sozialer Ungleichheit. Gesellschaftliche Kräfte kämpfen um eine symbolische gesellschaftliche, kulturelle Ordnung, wobei der Rassismus als Teil des Kampfes um diese Ordnung verstanden wird. Mit der Theorie vom Habitus wird eine symbolische Dimension geschaffen, die es ermöglicht, Rassismus in ein Konzept sozialer Ungleichheit einzuordnen. Der Habitus, das heißt die Grundhaltung des Individuums, die verinnerlichten Strukturen, die Bewertung der sozialen Umgebung und die daraus folgenden Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse werden sozial erworben. Soziales Handeln im Alltag orientiert sich in Folge hieran. Es geht den einzelnen sozialen Milieus, auch den Gebildeten, um die Frage nach dem richtigen Lebensstil, nach der sozialen und insbesondere wirtschaftlichen Position innerhalb der Gesellschaft. Die Gesellschaftsmitglieder wenden ihr Wissen und ihr Handeln in Bezug auf ihren Habitus situationsspezifisch und strategisch ausgerichtet an. Die Folge sind kulturelle Abgrenzung und soziale Distanz, auch bei den anti-rassistischen Gruppen. Bestimmte Gruppen werden auf diese Art und Weise von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen.

Um diese alltäglichen rassistischen Praktiken und Erfahrungen mit ethnisch Anderen sowie die Meinungen und Äußerungen gegenüber Fremden aufzuzeigen, wählt Karin Scherchel im dritten Kapitel als methodisches Instrument das Gruppendiskussionsverfahren. Die Autorin bezieht sich auf Bourdieu und nimmt an, dass die Einstellung und die Wahrnehmung der Individuen von ihrem sozialen Status abhängt. Folglich wählt sie eine Gruppe aus dem Arbeitermilieu und eine Vergleichsgruppe aus dem akademischen Milieu. Beide Gruppen zählen zur so genannten "gesellschaftlichen Mitte". Beide deutschen Gruppen sind eher dem linken politischen Spektrum zuzuordnen. Beiden Gruppen wird die Frage nach ihren Erfahrungen mit Ausländern gestellt.

Zur Auswertung ihrer Datenbasis zieht Karin Scherchel zum einen die dokumentarische Methode von Bohnsack, mit der sich milieubezogene Erfahrungsräume erfassen lassen, heran. Zum anderen nutzt sie die Grounded Theory, mit der sich ein umfangreiches Datenmaterial gewinnen lässt, an das sie dann die entsprechenden Fragen stellen kann. Beide Methoden liefern einen unterschiedlichen Zugang zu rassistischen Argumentationsfiguren.

Im folgenden Kapitel vier wertet die Autorin ihre Datenbasis empirisch aus.

In den Diskussionen ermittelt sie fünf rassistische Argumentationsfiguren, deren Habitus ausschlaggebend ist, für rassistische Wahrnehmungen. Sie weist nach, dass die flexible symbolische Ressource Rassismus auf verschiedene Art und Weise in den Argumentationsfiguren zum Ausdruck kommt. Deutlich wird, dass die Wahrnehmung und Vorstellung der Diskussionsteilnehmer über ethnisch Andere sich in rassistischen Bildern verfestigt hat. Je nach dem Milieu sind die Bilder unterschiedlich, die Auswahl des Umgangs mit und gegenüber ethnisch Anderen variiert im Alltag. So äußern sich rassistische Bilder am deutlichsten, wenn das Fremde sichtbar wird, es gilt die eigene Kultur zu festigen, es wird nach der Integrationsfähigkeit gefragt, die Verantwortung für Diskriminierung wird nach außen verlagert, es erfolgt eine selbstkritische Auseinandersetzung, die zur normativen Ablehnung des Rassismus führt. Die Sicht der rassistischen Bilder ist optional und nicht zwangsläufig gegeben. Die Ressource Rassismus erweist sich dementsprechend als äußerst flexibel.

Im letzten Kapitel zeichnet die Autorin noch einmal die Gedankengänge ihrer Studie nach. Das Kapitel endet mit einer Bewertung ihres Interpretationsansatzes. Karin Scherchel betont, dass ihr entwickelter Ansatz den Rassismus im gesamtgesellschaftlichen Bereich deutlich macht. Dieses Modell dient als Unterbau für die Frage, warum und wie sich rassistische Ideologien im sozialen Raum entfalten und verfestigen.

Diskussion

Unbestreitbar ist, dass diese Studie Denkanstöße in Richtung der Frage nach dem Verhältnis von Rassismus und Institutionen wie dem Staat und der jeweiligen Gesellschaftsstruktur gibt. Die Rekonstruktion von Rassismus, die im Habitus und der jeweiligen gesellschaftlichen Position begründet liegt, wird anhand der Gruppendiskussion in unterschiedlichen Milieus deutlich. Es stellt sich aber die Frage, ob der gesamtgesellschaftliche alltägliche Rassismus mit einem Theoriegebäude erfasst werden kann, das lediglich unterschiedliche Ansätze zur Ursache von Rassismus miteinander verknüpft. Und wenn Rassismus ein flächendeckendes vielfältiges gesellschaftliches Phänomen ist, dann bleibt die berechtigte Frage, warum der Rassismus soviel Erfolg hat und was eine Gesellschaft tun muss, damit der Rassismus nicht mehr erfolgreich ist? Die hier implizierte Gesellschaftskritik findet keine Antwort. Die Reichweite des Erklärungsansatzes ist hier zu gering. Die gesellschaftlichen Hintergründe für die Entstehung und Fortsetzung des Rassismus bleiben daher nur vage beleuchtet.

Auch mit der Begriffsbestimmung des Rassismus als flexible symbolische Ressource bleibt weiterhin die Frage offen, wie Rassismus gefasst werden muss, damit die Gesellschaft und die Repräsentanten mit in die Verantwortung genommen werden.

Wenn die politischen Strukturen selbst rassistisch sind oder ihm Vorschub leisten, kann eine Politik dann überhaupt Strukturen in Richtung Anti-Rassismus entwickeln? Da Vorurteile Haltungen sind, fragt sich, wie eine Gesellschaft vorurteilsfrei sein soll.

Es bleibt auch die Frage, wenn Diskriminierung sichtbar gemacht wird, was danach folgt, was eine Gesellschaft mit dieser Erkenntnis anfängt?

Fazit

Karin Scherchel leistet mit ihrer empirischen Studie über rassistische Argumentationsfiguren einen weiteren Beitrag zur Rassismusdebatte in Deutschland. Sie gibt zudem einen sehr guten linearen Überblick über die bisherigen Rassismusansätze. Indem sie danach fragt, wie sich Rassismus im Alltag äußert, lenkt Karin Scherchel den Diskurs auf den gesamtgesellschaftlichen Bereich. Mit Bourdieus Habituskonzept verdeutlicht sie, dass Rassismus ein Alltagsphänomen ist, dass Rassismus sich im Alltag entwickelt und fortsetzt und dass kein soziales Milieu von ihm verschont ist. Rassismus betrifft damit nicht nur einen Bereich der Gesellschaft.

Karin Scherchel, Rassismus als flexible symbolische Ressource. Eine Studie über rassistische Argumentationsfiguren. transcript (Bielefeld) 2006. 250 Seiten. ISBN 3- 89942-290-2. 25,80 EUR

© Soraya Levin