Ein philosophischer Wortdschungel mit einer obskuren Aussage: Antisemitismus als Medizin gegen die Angst. Céline, ein antisemitischer Lump oder ein ausgezeichneter Schriftsteller?
Ein französischer Klassiker ohne Werkausgabe ist dieser mit Wortschmutz um sich schmeißende emotionale Raser der modernen Literatur des 20. Jahrhunderts. Die Rede ist von Louis Ferdinand Céline. Sein Debütroman „Reise ans Ende der Nacht“ von 1932 schlägt ein wie ein lauter literarischer Knall. Eine literarische Größe, die sich mit antisemitischen Hetzschriften wie „Bagatelle pour un massacre“ selbst ins Abseits katapultiert.
Die Nachkriegsrezeption versucht bis dato den herausragenden Romanschriftsteller Céline von seiner antisemitischen Fracht zu befreien. Céline, ein Schriftsteller mit einem zweigeteilten Gesicht?
Der französische Schriftsteller Philippe Muray hat sich dieser Auseinandersetzung bereits 1981 gestellt. Sein Werk „Céline“ liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor. Muray spürt Céline auf eine ganzheitliche Art nach. Es gibt für ihn nicht den Céline ohne Schatten und den Céline mit antisemitischem Schatten.
In vielfältiger Kleinarbeit schaufelt Muray das künstlerische Schaffen von Céline frei. Es sind Romanfragmente, Auszüge aus den Pamphleten, Wortpöbeleien von Céline und die Meinung anderer, die da zu Wort kommen.
Muray betrachtet Célines Poesie aus dem Zeitgeist heraus, der letztlich die Persönlichkeit Célines geformt hat. Die rebellische Sprache in seinen Romanen suhlt sich im Dreck der Menschheit, verurteilt die Fäulnis dieser Welt. Stilistisch zeigt sich mit seinem zweiten Roman „Tod auf Kredit“ ein Vorgriff auf die Postmoderne. Céline schaut dem Volk aufs Maul, spricht wie es denkt. Schmutzig, dreckig, elendig. In einer wilden Wortraserei schüttet Céline seine beißende Wortgülle über den Menschen aus. Hier wird jedwede menschliche Moral von ihm negiert, hier wird alles Menschliche zerfetzt, hier gibt es keine Hoffnung, hier werden die schmutzigsten menschlichen Abgründe aus dem Keller gezerrt. Hier wird der Spiegel der Menschheit mit pöbelnden Wortbildern bloßgelegt. Eine von den Massen bewunderte Poesie, die 1937 mit der Veröffentlichung seiner antisemitischen Hetzschriften ihren Tiefgang erlebt. Die Masse brandmarkt den sich nach Deutschland flüchtenden Kollaborateur der Nazis, obwohl Céline nach Muray lediglich die antisemitischen Emotionen der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht hat. Er muss diese antisemitische Landkarte noch nicht mal neu denken, greift vielmehr Gedanken von Luthers Hetze gegen die Juden auf, bedient sich zudem bei Kant, Fichte, Hegel und Marx. Auch andere haben doch antisemitische Prosa veröffentlicht. Nur haben sie, die anderen, es viel geschickter angestellt und ihren Spiegel der Gesellschaft blind gelassen. Céline hält der Gesellschaft hingegen den Spiegel vor. Und das mag sie gar nicht. Er zeigt ihr ihre Gier und Lust, Teilnehmer an dem Völkermord zu sein. Dafür verabscheut sie ihn.
Muray versucht die Ursache und Wirkung von Célines hasserfüllten Wortfeuerwerken zu erfassen und er entdeckt Célines „Krankheit“. Sie heißt „Angst“. Die Ursache für Célines Antisemitismus ist nach Muray gefunden. Ganz im Sinne der Psychoanalyse von Freud enttarnt Muray Célines Antisemitismus in der Kastrationsangst begründet. Ein heute wieder aktuell diskutierter Standpunkt, wenn wir uns die Beschneidungsdebatte näher ansehen. Die Angst vor der jüdischen Beschneidung als Krankheit. Eine pathologische Angst, deren Medizin der Völkermord an den Juden ist. Muray bezeichnet die Wirkungsfähigkeit von Célines Heilmittel geradezu als visionär. Ein verirrtes Selbstverständnis, das Muray hier von sich gibt: Der Antisemitismus als Massentherapie. Der Massentherapeut kein anderer als Céline, der die in ihm sitzende Todesangst und die der Masse mit seinen zerfetzenden Hasstiraden betäubt.
Murays Erklärungsansatz erhöht Céline zum Künstler der Postmoderne, dessen antisemitische Pamphlete sich aus einem Fortschrittsoptimismus speisen, dem letztlich nur der christlich-jüdische Glauben entgegenwirkt. Antisemitismus als Motor des Fortschritts?
Muray unternimmt den Versuch, das Wesen von Céline logisch begründet herzuleiten. Er stellt Céline nicht nur als politiklosen Künstler dar, sondern nimmt die antisemitische Fracht von ihm und stilisiert ihn zum Opfer.
Célines Antisemitismus wird an weiteren Stellen herunter gespielt. Da ist schließlich eine wohlwollende Dissertation über einen Juden, nämlich Semmelweiß. Auch wäre in Célines Romanen kein Anflug von Antisemitismus zu erkennen. Muray irrt sich. In seinen Pamphleten spricht Céline von der Gefahr der jüdisch-asiatischen Barbaren. In seinem letzten Roman „Rigodon“ sind es genau die Chinesen, die eine neue Bedrohung für die Welt darstellen. Wenn Chinesen keine Asiaten sind?
Um es auf den Punkt zu bringen: Céline ist durch seinen tiefen Antisemitismus leck geschlagen und sein literarischer Ruhm ist damit gesunken. Diese Risse sind auch im Nachgang nicht abzudichten. Egal wie viel Muray hier an der Freudschen Psychoanalyse aufbietet. Die künstlerische Vernunft hat nicht das Recht, den dekorierten Künstler zu schmähen? Ach, nein? Hat aber literarische Prosa nicht einen Wirkmechanismus und ist sie daher kein Null-Ausdruck? Das Werk eines Künstlers ist unteilbar und in seiner Gesamtheit zu betrachten. Bis hierhin, d’accord Philippe Muray. Aber „Es gibt keinen ehrbaren Antisemitismus“, um mit den Worten von Jean Améry zu sprechen. Und in folgedessen auch keinen ehrbaren antisemitischen Schriftsteller namens Céline.
Philippe Muray, Céline, Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Nicola Denis, Die erste Auflage von Céline erschien 1981 bei Éditions du Seuil, Paris, 264 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, 2012 Matthes & Seitz Berlin, ISBN: 978-3-88221-559-5, 29,90 €/ 38,90 CHF
© Soraya Levin