Es geschah im November

Die späteren Semester erinnern sich sicherlich noch an die Ereignisse im November 1989. Die Marke Demokratie setzte sich in Osteuropa durch. Der „Eiserne Vorhang“ wich und die meisten Westeuropäer fielen vor Glück in einen Tiefschlaf, was unsere Sicherheitsarchitektur betraf. Hinter der Fassade brodelte es vereinzelt weiter, denn nicht jede Person teilte die salonfähige Demokratie. Beste Beispiele sind heute unter anderem Ungarn und das sich kriegerisch und menschenverachtend gebärende System in Russland. 

Und genau an diesem System setzt die Schriftstellerin Alena Mornštajnová an. Sie geht in ihrem kontrafaktischen Roman von einer alternativen Entwicklung der Novemberereignisse von 1989 aus. Ihre ausgesuchte Familie in der Tschechoslowakei verdeutlicht diesen alternativen Entwicklungsweg. Da ist die Maja. Sie heißt eigentlich Marie. Da ist ihr Ehemann Joska und da sind die beiden Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Der Junge ist nicht der leibliche Sohn von Joska. Ein Hinweis, der wichtig ist, da der eigentliche Vater und dessen Handlung den späteren Lebensweg des Jungen bestimmen wird. 

Die Autorin zeigt mit Marie, die nicht Medizin studieren darf, was ein kommunistisches Leben im sowjetischen Satellitenstaat für Menschen bedeutet, die in Sippenhaft genommen werden. Maries Eltern treten nicht gegen die Reformbewegung von 1968 an. Dieses hat bereits berufliche Konsequenzen für Maries Vater. 

In der Sowjetunion wird vielfach von der sogenannten gefährlichen konterrevolutionären Wende gesprochen. Einer Wende hin zum Frühling, wo man endlich nach eisiger Winterkälte durchatmen kann, die die Sowjetunion mit militärischer Gewalt nicht nur zum Stillstand bringt, sondern einschläfert.

Marie und Joska leben in dieser einschläfernden Zeit, wo eine Wohnung nur Verheirateten zugeteilt wird. Wo nicht der Mensch zählt, wo nur die Arbeitsnorm zählt und wo die Gesundheit des Arbeitenden auf der Strecke bleibt. Wo andere bestimmen, wie und wo es mit einem selbst lang geht. Wo Versprechen auf eine rosige Zukunft gemacht werden. Wo sich die sanierungsbedürftige Wahrheit an jeder Ecke zeigt wie an Waschtischen aus Blech und nicht vorhandenen Steckdosen. Wo man am besten schweigt, wenn man gläubig ist. Wo man generell über das Politische schweigt. 

Mit Glasnost und Perestroika wird mit und durch Michail Gorbatschow der energiegeladene Drang der Menschen nach Liberalisierung und Demokratie auch in den Satellitenstaaten immer größer. Alena Mornštajnová zeigt in ihrem Roman auf, dass die sogenannte zweite russische Revolution mit der Festsetzung von Gorbatschow durch das sowjetische Militär scheitert. Mit dieser revolutionären Niederlage ist im Roman eine Kettenreaktion des Scheiterns verbunden. Denn die ehemaligen Satellitenstaaten hängen an den sowjetischen Fixseilen. Und im Roman befinden wir uns schnell wieder in stalinistischen Zeiten. Mit dem Einsperren der Menschen hinter dem neu gezogenen Stacheldraht ist er wieder da, dieser „Eiserne Vorhang“. 

Die ersten Seiten eines Briefes von Marie an ihre Tochter Magdalena und die letzten sind geschwärzt. Geschwärzt, damit die konterrevolutionären Gedanken der Feinde des Systems nicht nach außen dringen. Marie und Joska werden verhaftet. Eigentlich sind sie im Buch unpolitisch, doch durch einen inoffiziellen Spitzel lassen sie sich verleiten, die Systemschwächen auf einer kleinen Demo anzusprechen. Das reicht, um Joska für immer verschwinden zu lassen. Das reicht, um Marie für 20 Jahre hinter Gitter zu bringen. Das reicht, um ihnen die Kinder wegzunehmen. Während der Junge mit seinem leiblichen Vater in den Westen flüchtet, wird die Tochter in ein Heim verfrachtet. Hier erfahren die Kinder eine ideologische Gehirnwäsche. Hier werden sie nicht nur zum Hass auf die Systemfeinde erzogen. Hier werden sie zum Hass auf ihre Eltern, auf diese sie nicht liebenden Verräter, erzogen. Und während Marie in den Briefen, die ihre Tochter nie erreichen werden, schreibt „erinnerst du dich an mich“, wird ihre Tochter sich nicht an sie erinnern. 

Das System wird wie zu Zeiten Stalins in jede Richtung gesäubert. Hinrichtungen, Verschleppungen, Inhaftierungen ohne ersichtlichen Grund und ohne Gerichtsprozesse. Es ist ein demokratischer Kahlschlag, dessen Herzschrittmacher diejenigen sind, die aus Angst schweigen, diejenigen, die endlich einmal andere schikanieren können wie der junge Soldat, der neben der verbalen auch körperliche Gewalt und sexuelle Belästigungen ausübt, diejenigen, die ideologisch überzeugt sind oder werden und diejenigen, die eh immer mitlaufen. 

Sichtbar und spürbar wird im Buch diese Ausdünnung der liberalen und demokratischen Kräfte, die zur Festigung der Diktatur führen. Eine Diktatur, die im Roman zwar kontrafaktisch gegeben ist, aber durchaus in der Entwicklung realistisch erscheint. Die gefestigte und als Selbstverständnis gesetzte Demokratie wie wir sie vorfinden, kann von heute auf morgen auf eine Sparflamme gesetzt werden. Umstände, die diese Sparflamme begünstigen, gibt es genügend. Über den Klimawandel, Pandemien, ökonomische und soziale Verwerfungen und „tollen“ Anführern, die genau wissen, wie das Leben weitergehen kann. Anführern, die sich irren, aber hinter denen viele gern herlaufen, weil es einfacher ist, den Weg anderer zu gehen, statt den eigenen. 

Eine  Schneise der menschlichen Verwüstung wird auf dem Weg zur Autokratie und Diktatur immer gezogen. In dieser Abrissgegend mit den aufrechterhaltenen Fassaden klaffen Wunden und Löcher. Jeder muss hier seine neue Rolle finden. Im Roman nehmen Maries Eltern aus ihren Erfahrungen und ihrer ausweglosen Situation die Rolle der Schweigenden und Unauffälligen ein. Marie in ihrer Rolle nimmt ihr Leben zunächst so hin wie sie es im systemgesetzten Rahmen vorfindet. Ihre Rolle ändert sich erst für einen kleinen Moment, als der Systemspitzel als Stichwortgeber auftritt und auf die Schwächen des Staates und die widrigen Lebensumstände aufmerksam macht. Diese kurzfristige Zustimmung mündet im Gefängnis, wo Marie in eine durch und durch erzwungene und angepasste Rolle gewickelt wird. Ihre letzte große Rolle übernimmt sie als Flüchtende, die letztlich im Tod mündet. Im Roman steht sie für mich stellvertretend für den letzten Mauertoten Chris Gueffroy, mit dessen Ermordung verdeutlicht wird, dass es nicht um den Menschen geht, sondern um den Machterhalt des kommunistischen Systems. Es zeigt sich der monopolistische Widerspruch, denn es werden gerade keine Unterschiede zwischen den Menschen überwunden, sondern die Unterschiede werden brutal etabliert: Die einen, die bestimmen und unterdrücken, die anderen, die gehorchen und folgen müssen. Hier wird der Mensch ausgeplündert wie im Buch verdeutlicht an dem Umstand, dass ab 21:00 Uhr die Kneipen schließen, damit die Arbeitskraft am Morgen zur Verfügung steht. Solidarität basiert auf angepasst sein. Das Wort Gleichheit verkommt zur Makulatur, denn Gleichheit bedeutet gleiches Denken. Die Autorin zeigt dieses auf, als Maries Tochter lernt, dass es neben den guten Büchern auch die gibt, die dem System schaden wollen. Bücher, die andere Gedanken aufzeigen. 

Maries Tochter legt ihre ideologisch überzeugte Rolle in dem Moment ab, als sie erfährt, dass ihre Mutter bei einem Fluchtversuch über die Grenze erschossen wurde. Meines Erachtens versucht die Autorin an dieser Stelle zu verdeutlichen, dass wir letztlich als Mensch doch stärker sind, als Ideologien und die Diktatoren. Ich denke, dass diese Sicht der Stärke ein Wunschdenken ist. Selbstverständlich darf Literatur aber auch der Mensch an sich dieses Denken haben. Nur die Realität zeigt im Prozess der Menschheitsgeschichte etwas anderes. Wir brauchen uns nur umzublicken. Es gibt nichts zu beschönigen und die klugen Ratschläge mit Protesten und Demos sind auf dem Komfortplatz sicherlich gegeben aber nicht dort, wo ohne Rücksicht geschlagen, geschossen, weggesperrt und getötet wird.
Aber dieser Roman ist nicht die Realität sondern kontrafaktisch. Das Nachdenken über derartige Ereignisse führt jedoch immer wieder in die Realität, die keine Fiktion ist und diejenigen, die sagen, wir müssen unsere Demokratie schützen, verharren auch im Nichtstun, da die Erleichterung über das Leben in einem nicht-repressiven System auf der einen Seite oftmals zur Erstarrung führt. Auf der anderen Seite sind viele Menschen bereit, sich von wenigen Menschen und ihren Ideologien gängeln zu lassen. Hier ist es wie im Roman, wo die Zimmerälteste im Heim die Einhaltung der ideologischen Spielregeln überwacht. Nicht das große System überwacht bei uns zur Zeit die ideologischen Spielregeln und schreibt dann das Leben vor, sondern viele kleine, die bestimmen, was wir essen sollen, wie wir denken müssen, wie wir leben sollen und wie wir sprechen müssen. Hier geht der Blick verloren auf das, was Demokratie und Liberalismus bedeutet. Denn Freiheit sieht anders aus. Sich dagegen stellen ist natürlich in unserem Land leichter und überhaupt nicht zu vergleichen mit dem repressiven System im Roman sowie in den realen Autokratien und Diktaturen dieser Welt. Dennoch erfordert es ein klein wenig Mut, insbesondere vor dem Hintergrund von Shitstorms in den sozialen Medien, gegen den ideologischen Mainstream zu schwimmen. 

Der 27.11.1989 steht im Roman für einen reaktionären Wendepunkt. Die alten Systemunterschiede zwischen West und Ost, zwischen Imperialismus und Kommunismus bestimmen das neue Denken. Ein Lagerdenken, was wir heute insbesondere an der Entwicklung in Russland sehen. Andersdenkende sind weggesperrt und die Expansionsgelüste münden im Krieg. Es wäre meines Erachtens eine neue Truman-Doktrin notwendig, denn diejenigen, die mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ die Hoffnung hatten, auf liberale und gefestigte demokratische Entwicklungen in ganz Europa, die haben sich geirrt. 
Geirrt, weil die Karl-Eduard von Schnitzlers, die den Imperialismus weiterhin als Feind und als „Eiterbeule“ betrachten, die Personen wie Gorbatschow als Verräter bezeichnen und das alte kommunistische System erneuern wollen, weil genau die weiterhin am Werk sind.

Der Roman, linear erzählt und gut lesbar aber dennoch anspruchsvoll geschrieben, zwingt zum Nachdenken über Fakten und Kontrafakten. Er lässt zwei Fragen offen und zwar die wichtigsten und nachhaltigsten, die dringend beantwortet werden müssen: Wie kann die Zivilgesellschaft es schaffen, die Demokratie zu erhalten und wie kann sie es schaffen, sich aus autokratischen und diktatorischen Zwängen zu befreien?
Werden diese Fragen nicht beantwortet, so bleibt nur ein Entwicklungsstrang über, nämlich der im Roman geschilderte.  

Alena Mornštajnová, Es geschah im November, Aus dem Tschechischen übersetzt von Raija Hauck, 348 Seiten, gebunden, Lesebändchen, 2022 Wieser Verkag GmbH Klagenfurt/Celovec, ISBN: 978-3-99029-494-9, EUR 21,00

© Soraya Levin