In seinem auf Tatsachen beruhenden Roman erzählt Bernd Schroeder die Geschichte eines bis heute nicht eindeutig aufgeklärten Kriminalfalls des letzten Jahrhunderts. Es ist die Geschichte von Karl Hau, der vermeintlich einen Mord begangen hat und zum Tode verurteilt wird.

Der Ausgangspunkt des Romans ist Ajaccio auf Korsika. Im Sommer 1901 begegnen sich dort der junge nonchalante und weltmännisch wirkende Jurastudent Karl Hau und die Witwe Josefine Molitor mit ihren beiden Töchtern Olga und Lina aus Baden-Baden. Beide Schwestern verlieben sich in den jungen Mann, doch Hau fühlt sich von der älteren Lina erotisch angezogen. Trotz einer Flucht in die Schweiz scheint ihr Liebesschicksal ausweglos, da Lina bereits einem Leutnant versprochen ist. Sie versucht sich das Leben zu nehmen. Nur eine Heirat der Verliebten kann einen öffentlichen Skandal verhindern. Beide siedeln in die USA über, wo Hau seine Jurastudien fortsetzt und sich bemüht, in die privilegierte Gesellschaft vorzudringen. Zahlreiche sexuelle Ausschweifungen und sein verschwenderischer Umgang mit Geld, stehen im Widerspruch zu seinem sonstigen durchaus fürsorglichen und ehrbaren Verhalten.

Auf einer Europareise bleibt Lina in London zurück, während Karl Hau sich am 6. November 1906 heimlich in Verkleidung nach Baden-Baden begibt, welches er am Abend wieder in Richtung London verlässt. Am selbigen Tag wird auf dem Weg zum Postamt und in Begleitung ihrer Tochter Olga Josefine Molitor erschossen. Eine Vielzahl von Hinweisen führt am 7. November 1906 zur Festnahme von Karl Hau in London und zur Auslieferung nach Baden-Baden.

Nicht die vermeintlich begangene Tat steht bei den Vernehmungen und dem Prozess im Vordergrund, sondern Haus Persönlichkeit und seine Neigungen. Zeugen werden unter Druck gesetzt und die Beweislage so gelegt, dass der Tatverdacht sich immer mehr auf Hau richtet.
Während des gesamten Prozesses werden die Zweifel an der Unschuld von Karl Hau durch die Presse lebendig gehalten. Obwohl die Beweislage nicht eindeutig ist und keine Gewissheit über Hau als Täter besteht, gelingt es seinem Verteidiger Dr. Dietz nicht, die Geschworenen von dessen Unschuld zu überzeugen. Er wird zum Tode verurteilt. Die Bevölkerung spricht von „Justizmord“ und es kommt zum offenen Widerstand. Nach einem Gnadengesuch wird die Todesstrafe in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Während seines Gefängnisaufenthaltes entwickelt er schriftstellerische Ambitionen. 1924 wird Hau unter der Bedingung nichts über sein Leben, die Tat und den Gefängnisaufenthalt zu veröffentlichen, vorzeitig entlassen. Trotz der richterlichen Auflage bringt er zwei Bücher mit dem Titel „Todesurteil“ und „Lebenslänglich“ heraus. Seine Begnadigung wird 
widerrufen und Karl Hau flieht nach Italien in die Ruinen der Villa Adriana.

Bernd Schroeder setzt seinen zeit- und sozialkritischen Roman wie ein Puzzle zusammen, das ein realistisches Bild der Strafjustiz des Deutschen Kaiserreiches vermittelt. Dieses gelingt auf bemerkenswerte Art und Weise durch nichtlineare Zeitperspektiven. In Vor- und Rückblenden wird das Lebensschicksal von Karl Hau durch die Nebenfiguren beleuchtet. Ein Spektrum von Sehnsucht nach Anerkennung, Liebe, Sex, einer scheinbaren Moral, Betrug, Großmannssucht, Mord. Der Leser gerät dadurch in einen Widerstreit seiner Meinung. Mal scheint Hau der hochmütige, unaufrichtige, habgierige, sexlastige und verschwendungssüchtige Täter, mal scheint er das Opfer. In dem Prozess ist der beschuldigte Hau von vornherein der Täter. Ein Motiv wird wie besessen gesucht und auch gefunden. Mit der Manipulation der Zeugenbefragungen und der Verurteilung von Hau wird deutlich, dass Wahrheit ein sehr dehnbarer und relativer Begriff ist. Und dem Zeitgeist entsprechend, wird nicht nur die Tat an sich bestraft, sondern das persönliche Verhalten. Der Prozess wird zur Farce und Heuchelei. Die Rechtsordnung zerfällt, zurück bleibt ein zerstörtes Leben und Zweifel an der Schuld, die bis heute lebendig sind.

Bernd Schroeder, Hau, Roman, 368 S., gebunden, Carl Hanser Verlag München Wien 2006, 21,50 (D) / sFr 38,70 / 22,10 (A), ISBN 3-446-20756-2 / 978-3-446-20756-1

© Soraya Levin