Wo geht’s zum Ich? Lebensspuren, die in die Irre führen. Das menschliche Leben eine Täuschung? Urs Jaeggi entwickelt in seinem Roman Heimspiele ein feines Gespür für diesen Tauchgang zwischen der Wahrheit und dem Traum, der nach der Gewissheit des menschlichen Lebens fragt. Seine Momentaufnahmen der einzelnen Erzählungen zeigen die Seelenlandschaften der innerlich zerrissenen Protagonisten, die sich fragen, wer sie eigentlich sind? Es sind Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, die ausgegrenzt sind, die sich in sich selbst zurückziehen, die nach einem Anker suchen oder die ohmächtig die letzte Option einer Flucht aus dem Leben wählen, den Selbstmord.

Jaeggi mischt unter die Bilder seiner Figuren autobiografische Elemente. Viele seiner Figuren haben Banker gelernt wie er und sind künstlerisch veranlagt und malen oder schreiben. Die Orte sind vielfach seines eigenen Wirkens und seiner Lebensstationen entnommen.

Da ist der Bankangestellte Seraphin, dessen Mutter 1927 durch den Tod des Vaters an der Auswanderung in die USA gehindert wird. Seraphins Vision in die USA zu gehen, wird auf identische Weise wie bei der Mutter nun aber durch ihren Tod vereitelt. Statt der großen Welt nun das kleine Dorf der Mutter als neue Heimat. Eine Heimat, die aber erstmalig Geborgenheit bietet. Eine Heimat, die jedoch nicht das Ende seiner Lebensspuren bedeutet, denn diese führen widersprüchlich doch in die USA.

Ein toter Schweizer bei einer Wallstreetdemo, der scheinbar Seraphin ist und Robert Walser heißt. Jaeggi vermischt an dieser Stelle seinen Protagonisten mit dem Schweizer Schriftsteller Robert Walser. Auch Robert Walser ist Banker gewesen. Walsers Romanfiguren haben sich auch gegen das Gewinnstreben gestellt. Und zwischen seinem Sein und seinem Tod bleiben ebenfalls Ungereimtheiten.

Rätselhaft bleibt es auch um den Obdachlosen Alois. Wegen des Verdachts eines begangenen Mordes sitzt er in Haft.
Hat es eine metaphorische Bedeutung, dass Jaeggi seinen Alois genau am 11.11. in Zelle 11 in Berlin Moabit inhaftiert. Oder führt er den Leser in die Irre, denn an dieser Stelle kann ein Zusammenhang zwischen dem Beginn des närrischen Jahres und der Inhaftierung hergestellt werden. In der Haft wird das Treiben von Alois närrisch. Er dreht durch, schreit und tobt und verhält sich wie sein Lieblingstier der Affe. Wie im Wahn kritzelt er einzelne Worthülsen auf Zettel. Die Zahl 11 als Symbol für das Nichttugendhafte, das sich in seinen Lebensspuren eines Antimilitaristen und eines ehemaligen politischen Aktivisten zeigt und jetzt für die Staatsanwaltschaft und die Öffentlichkeit auf närrische Art und Weise den Verdacht erhärtet.
Nach seinem Suizid bleibt für die Gefängnisaufsicht nicht nur die Frage, ob der Tod Alois unausweichlich gewesen ist, sondern ob er überhaupt der Täter war. Die von der Aufsicht 
gesammelten Wortfetzen des toten Alois liegen nun neben Worten in Briefen und Karten der eigenen Mutter. An welchen Worten kann hier gezweifelt werden?

Gezweifelt werden kann auch an Jaeggis Figur TUTTUT. Ist es die Wahnfigur des Ich- Erzählers der Geschichte, die leidet oder der Ich-Erzähler selbst?
Hervorgehoben ist die Kreativität des Ich-Erzählers, der mit Wasserfarben Landschaftsbilder malt. Die nicht-deckenden Wasserfarben könnten seitens des Autoren ein Hinweis darauf sein, dass unser Leben und unsere Wahrheit nicht klar definierbar sind. Es sind die unsichtbaren und sichtbaren vergangenen und gegenwärtigen Lebensspuren, auf die Jaeggi mit TUTTUT hinweist. TUTTUT oder doch der Ich-Erzähler? Eine Person oder doch zwei? Ein Wahn oder Normalität? TUTTUT, der imaginär malt, der tanzt und springt und sich bewegt. Ein Ausdruck der Freiheit, die ihm die „normale“ Welt nimmt. Was bleibt ist die Angst, der er sich mit seiner Phantasie entgegenstellt.

In der Geschichte Edgar spiegelt sich das Leben ebenfalls als ein täuschendes Spiel wider. Fotos eines toten Künstlers konservieren Gewalt und Kontrollverluste, die auch beim Filmdreh für Edgar sichtbar und fühlbar werden. Jaeggis Edgar symbolisiert die Frage nach der sichtbaren Wahrheit und dem, was gespielt ist und was echt ist.

Spielt Stefanie Stefan, da Homosexualität nicht zu der scheinbar „normalen“ Wahrheit gehört. Und was bleibt von dem homosexuellen Ferdinand, wenn er Stefan zu Stefanie macht, es ihn selbst aber nicht geben darf? Es ist die Last eines doppelt geführten Scheinlebens, die Jaeggi anspricht.

Den größten Raum nimmt die Geschichte des Wiener Holocaustüberlebenden Hans ein. Eine Nacht lang tritt er, der Ich-Erzähler, in seiner New Yorker Wohnung in einen Dialog mit seinem Ego-Alter Hans, wobei die Zeitebenen und die Perspektive von Jaeggi zwischen dem tatsächlich Wahren und dem Fälschlichen verschoben werden. Der Gesang einer Frau „you gotta a change“ verdeutlicht, dass nur durch den Perspektivwechsel die bedeckte Vergangenheit sichtbar wird.

Jaeggi hat ein optimales Motiv gefunden, das diese Geschichte durchzieht. Es ist Schnee, der mit der Kälte und dem Tod assoziiert wird, der im Dialog die zertrümmerte Identität von Hans, geplagt von Todesfurcht, Ängsten und Schuld, zeigt. Der Vater, verfolgter Halbjude und talentierter Klavierbauer ist verschollen, vielleicht tot oder lebt er nicht doch irgendwo? Der Schnee fällt still vor sich hin und bedeckt alles. Ebenso ist auch Hans seine Vergangenheit verschwunden und bedeckt. Der Schnee gleichzeitig auch als eine Symbolik für einen Neuanfang, für eine Bereinigung. Hans hat es versucht. Er ist von Wien über Prag, Marokko und Italien nach New York geflohen. Er wird amerikanischer Staatsbürger, geht zum Militär und entschlüsselt Informationen aus seinem ursprünglichen Heimatland. Die Frage, was Heimat ist und was nicht und für wen und was man eigentlich eintritt, wird damit deutlich. Jaeggis Protagonist schafft den Aufstieg. Er wird führend in der Radiotechnik und ist kreativ im Bereich des Schreibens und der Musik. Er ist angekommen und bleibt dennoch einsam. Hans sammelt Töne, die uns umgeben und Frösche in jeder Form vom Radiergummi bis zur Tasse. Während der Nazizeit ist Hans für seine Freunde plötzlich ein Anderer gewesen, „hässlich wie eine Kröte“. Auch wenn der Ich-Erzähler im Buch einen anderen Zusammenhang zwischen der Froschsammelleidenschaft herstellt, denke ich, dass hier der Ursprung liegt. Seine reale Welt, die Hans von heute auf morgen verloren hat, lässt Jaeggi in der Sammlung der Umgebungsgeräusche wieder aufleben. Sich der Realität bewusst zu werden, sie noch zu erkennen, wenn sich die Welt längst verändert hat.

Die morgendlichen Fußspuren im Schnee, die aus dem Hof hinein- und hinausführen, zeigen, dass es nie vorbei ist, da die Vergangenheit und ihre Bilder bei uns bleiben. Sie kommen und gehen wie auch der Ich-Erzähler Hans kommen und gehen lässt. Wie beim Schnee, von dem ein schmutziger Matsch bleibt, so bleiben auch die leidvollen Erinnerungen. Die zerbrochene Tür im Hof, sie führt zu einer anderen Wahrheit, zu einem anderen, längst zerbrochenem Leben. Die überwiegend schwarz gestaltete Wohnung kann als Symbol der Trauer gedeutet werden. Ein Foto der Freundin Lara. Jaeggi lässt es seinen Hans zwischen William Faulkners The sound and the Fury und Steinbecks Burning Bright hängen. Ein Ausdruck der Zerrissenheit und Unsicherheit, der Hoffnungslosigkeit sowie der Hinweis auf das Motiv der Zeit, welches sich durch das ganze Buch zieht.

Die Lebenszeit, die Lebensspuren, die Zeit der Ankunft, die verrinnende Zeit eines Tages, die von der Arbeit heimkehrenden Menschen, der heranbrechende Morgen, die zur Arbeit aufbrechenden Menschen, der Zeitpunkt des Todes. Zeit, die die Wahrheit nicht erkennen lässt.

Urs Jaeggis Geschichten sind durchtränkt vom Zweifel unserer Wahrnehmung und unserer menschlichen Erfassung der Wirklichkeit. Sein Schreibstil wechselnder Perspektiven ist irritierend. Seine Bilder sind ungewöhnlich, mit vielen Symboliken durchsetzt und dabei anregend für neuen Denkstoff.

Urs Jaegi, Heimspiele, Prosa, 208 Seiten, brosch., 2015 Ritter Verlag, Klagenfurt und Graz, ISBN: 978-3-85415-532-4, 13.90

© Soraya Levin