Vorgefühl der nahen Nacht

Stefan Zweig, der österreichisch-jüdische Jahrhundertschriftsteller, dessen Seele zum Schatten erstarrt ist, versinkt in der Endstation des brasilianischen Petrópolis. Hier in dem Paradies der Natur, ganz in der Nähe von Rio de Janeiro unter dem Schutz der übermächtigen Christusstatue, hier, wo die Zweigs bis zum Februar 1942 Schutz suchen, hier beginnt im September 1941 Laurent Seksiks fiktive aber auf Fakten beruhende Erzählung.

Auf dem Höhepunkt seiner Karriere, flieht der umjubelte und hoch gefeierte Schriftsteller Stefan Zweig 1934 vor den Nazis aus seiner Heimatstadt Salzburg nach London. Hier im britischen Exil lernt er die sehr viel jüngere, ebenfalls geflüchtete Lotte kennen und lieben. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau Friderike heiratet er Lotte. Eine einfache, eine stille Heirat, unter der die junge schwer an Asthma erkrankte Frau leidet. Wie Kaugummi kleben der Krieg und die Nazis an ihnen. Mit der Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Großbritannien sind sie, die gerade vor den Nazis geflüchteten Exilanten, plötzlich Feinde der britischen Krone. Hier lässt sich nichts mehr beginnen. Sie fliehen nach New York. Doch Freiheit ist auch hier nicht zu spüren. Eingezwängt zwischen Menschenschlangen, zwischen Visaanträgen und Bittgesuchen, wird er selbst, Stefan Zweig, zur Symbolfigur der Rettung für Dutzende nach Affidavits durstende Juden. Nicht nur Lotte droht in diesem New York, in diesem Dickicht der Hilfesuchenden zu ersticken. Der Kampf um die Luft zum Atmen macht die Zweigs wiederum zu Treibholz. Die Wunderwelt Brasilien soll ihre Rettung sein. Heißt Petrópolis nicht das Paradies? Und bedeutet dieses nicht die Ewigkeit? Eine kleine Zufluchtsstätte mitten in der Natur. Sie könnte ein Lichtblick, ein Auf- und Durchatmen sein. Oberflächlich scheint es auch so. Zum ersten Mal spüren die Zweigs so etwas wie angekommen sein. Im Gepäck Stefan Zweigs Quell des Lebens, 40 gerettete Bücher, die die vergangene Zeit still stehen lassen, die die toten Freunde wieder auferstehen lassen. Die überall Spuren der großen vergangenen Jahre aufweisen. Er verliert sich in diesen nun für immer verbauten Spuren. „Nie mehr flanieren auf der Elisabethbrücke, keine Spaziergänge mehr auf der großen Allee des Praters, [...] Die Nacht hatte sich für immer herabgesenkt“.

Rücksichtslos ächzt die schwere Seele, undurchdringlich reißt sie selbst Lotte mit sich. Lotte, die in diesem sich verlierenden Lichtspiel nun ein Schattendasein führt. Für sie, die junge Frau, gibt es kein Glamour, keine rauschenden Feste, scheinbar noch nicht einmal die ersehnte Liebe von Stefan. Für sie, Lotte, bleibt nur der abgeblätterte Glanz in der Sackgasse des Exils. Hier herrscht keine Lebensfreude, hier hat die Sehnsucht nach der vergangenen friedlichen Zeit, der Gram um die vom Tod bedrohten und verfolgten Juden, der Gram um die toten Freunde die ganze Seele zugewuchert. Hinter dieser maroden Fassade immer wieder Momente der Hoffnung. Momente, wo Stefan Zweig seine literarischen Kräfte wieder freisetzt. Momente, die gleichzeitig die hoffende Flamme auf Liebe in Lotte ersticken. Nicht sie ist sein Lebenselixier, sondern seine literarische Arbeit über Balzac. Nicht sie ist Teil von seinem Leben in seiner Autobiografie, sondern Friderike, seine erste Frau. Da sind sie aus dem Schatten, die Momente, die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Salzburg geben, wie der Kriegseintritt der USA 1941. Momente, wo sie tatsächlich ausgelassen Karneval feiern können. Und immer wieder bluten gerade diese Momente durch Ereignisse von außen aus. Die deutschen Truppen überschwemmen Osteuropa, morden und wüten an der jüdischen Bevölkerung. Deutsche Truppen am Suez und Singapur, sie können dem Druck nicht standhalten. Ihre Hoffnung wird schwächer und kommt zum Erliegen. Ihr einziger Schutz ist der Selbstmord. Brasilien wird ihr Sarkophag.

Petrópolis, das scheinbare Paradies, ist kein Sprungbrett aus dem Dunkel zurück in das Leben, für diese so aufgepeitschte Seele. Ein Abschied reiht sich an den anderen und bringt immer größeres Verderben. Seine von den Nazis zerstörte glückliche Zeit in Salzburg, sein erzwungener Abschied aus der Heimat, sein Schreibverbot, seine verbrannte Bücherfamilie, seine in den Selbstmord getriebenen Freunde, die vielen verfolgten und ermordeten Juden. Und er, der große Stefan Zweig, er schweigt. Zweig ist nicht angeseilt bei diesem Sturm, verliert mit diesen vielen Abschieden seine Seilschaft und seine nicht wetterfeste Seele verliert sich endgültig in der Dunkelheit. Einer Dunkelheit, die kein Morgen zulässt, die Lotte packt und mit sich reißt.

Dieses Buch liest niemand nur einmal. Einfach grandios mit welcher Dynamik und erzählerischen Kraft Laurent Seksik Stefan Zweigs versinkende Seele im brasilianischen Exil beleuchtet.

Laurent Seksik, Vorgefühl der nahen Nacht, Originaltitel: Les derniers jours de Stefan Zweig, Aus dem Französischen von Hanna van Laak, Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 240 Seiten, 2011 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, ISBN: 978-3-89667-443-2, 18,95 [D] | 19,50 [A] | CHF 29,90* (empf. VK-Preis)

© Soraya Levin