Von Zeit und Fluss

„So geht’s nicht! Nein, so geht’s wirklich nicht!“ ruft Michael Köhlmeier im Nachwort zu Thomas Wolfes Roman Von Zeit und Fluss. Einfach nur fließbandartig Wörter verschlingen ist bei diesem wortgewaltigen Schwergewicht nicht angesagt. Auf diesen modernen amerikanischen Roman des mit nur 37 Jahren jung verstorbenen Autors muss man sich einlassen, um seinen Puls zu verstehen.

Stunde um Stunde und Seite um Seite sitzt der Leser mit Wolfes Alter Ego Eugen Gant im Zug und rauscht durch die Weiten Amerikas. Doch die bekannte ermüdende Monotonie langer Zugfahrten tritt hier nicht ein. Wie getragen von einem dahinfließenden Strom fängt Thomas Wolfe die Umgebung und die Charaktere mit einer wuchtigen Detailfülle ein. Jetzt reiht sich Adjektiv an Adjektiv in endlos dahinfließenden Sätzen, Wiederholungen und ein Packen an bildhaften Beschreibungen. Wie in Eugen Gants Lieblingsliteratur Ulysses von James Joyce liegt gerade in diesem maßlosen Befüllen die große Sprachkunst und Ausdruck der Moderne.

Getrieben von der jugendlichen Unruhe und Sinnsuche verlässt Eugen die südstädtische Provinz mit dem kleinstädtischen Mief und geht zum Studium nach Boston. Wie in Odysseus Irrfahrt, ist Eugen jedoch nicht klar, wohin seine Reise im Leben geht. Er reist durch Amerika und durch Europa und irrt Jahre wie Homers Held herum. Jahre, in denen sich Eugen wie Odysseus nach der Heimat, der er doch freiwillig entflohen ist, verzerrt. In acht Büchern, die eng an die griechische Mythologie angelegt sind, beschreibt Thomas Wolfe diese Lebensreise.

Eugen studiert in Harvard Dramatik und träumt von einer großen Karriere und Berühmtheit. Doch mit seinem bisher einzig geschriebenen Theaterstück hat er keinen Erfolg. Eine bittere Erfahrung für Eugen, hat er sich doch so viel Hoffnungen auf den ganz großen Wurf gemacht. Hat er Tag und Nacht damit zugebracht, Bücher zu verschlingen. Hat er doch geglaubt, dass das den Künstler ausmacht. Jetzt ist er völlig orientierungslos und ohne Selbstvertrauen, verfällt in völlige Lethargie. Seine Mutter und seine Schwester reden auf ihn ein, endlich eine Arbeit anzunehmen und ihnen nicht weiter auf der Tasche zu liegen. Dieser Druck treibt ihn schließlich nach New York, wo er eine Dozentenstelle annimmt. Sein Misserfolg sitzt noch tief. Er fühlt sich der Aufgabe nicht gewachsen und so ist jeder Gang zum Unterricht begleitet von Versagensängsten. Sein zwanghaftes Verlangen Schriftsteller zu werden, hemmt ihn gleichzeitig. Er möchte schreiben, doch sein Vorhaben scheitert an ihm selbst. Das Scheitern als ein wiederkehrendes Motiv des Romans. Denn nicht nur Eugen scheitert. Auch seine Schwester sieht ihr Leben als vergeudet an. Auch sie hat in der Jugend große Träume gehabt, die letztlich zerplatzt sind. Ihr einziger Lebensinhalt ist die Pflege des kranken Vaters und die ständige Angst, ihn und die Aufgabe zu verlieren. Das Gefühl der Jugend von Unsterblichkeit und ewigem Jungsein löst sich mit dem Siechtum des Vaters auf. Eugen verachtet seinen Vater hierfür. Erst nach dem Tod des Vaters wird ihm schmerzhaft bewusst, was er verloren hat. Der Tod, eine wiederkehrende Symbolik in Von Zeit und Fluss. Der Tod des Vaters und der Tod des älteren Bruders Ben als existentielle Erfahrung.

Eine dahinfließende Jugend mit der Rastlosigkeit und den Zwängen der Gesellschaft, die Eugen erstmals nach einer Trunkenheitsfahrt mit Freunden erlebt. Verhaftet, eingesperrt und ohnmächtig gegenüber dem Druck der Polizei. Sichtbare Zwänge und die große Selbsttäuschung auch bei Eugens Schwester. Statusorientiert strebt sie mit allen Mitteln der Oberschicht entgegen. Es ist eine Fassade, denn es ist nicht die Gesellschaft, in der sie sich wohlfühlt. Einen tiefen Einblick in die Milieus gibt Thomas Wolfe am Todestag des Vaters am Beispiel der Trauergäste. Auf der einen Seite die wahren, die einfachen Freunde und Bürger des toten Steinmetzes, auf der anderen Seite die distanzierte Elite. Es sind insbesondere die Milieuschilderungen, die die Wirklichkeit spiegeln. Eugen begegnet Menschen aus allen Gesellschaftsschichten. Die Kleinstädter aus der Provinz, die Urbanen, die Huren, die Reichen, die Verarmten, die Dandys, die Gestrandeten und die Einsamen. Das Gefühl der Einsamkeit ist ein Begleiter von Eugen. In Boston besucht er regelmäßig am Sonntag seinen bürgerlich verschrobenen Onkel und seine Tante, um dem Alleinsein zu entfliehen. Als er mit Hilfe eines Stipendiums nach Europa reist, ziehen ihn die Zurückgezogenheit und die Sinnfragen immer tiefer hinunter. Eugen ist einfach nur unglücklich und die Sehnsucht nach der Heimat wächst. Zu Hilfe kommt ihm sein ehemaliger Studienfreund Starwick, den er zufällig in Paris trifft. Starwick repräsentiert ein Stück Heimat und Geborgenheit. Gemeinsam mit zwei Freundinnen, die Starwick aushalten, sumpfen sie durch die Pariser Nächte. Tingeln im Rausch von Nachtclub zu Nachtclub, von Café zu Café. Eugens Suche nach dem Sinn des Lebens ist hier ins Gegenteil verkehrt. Ein sinnentleertes Jahr, das am Ende mit seiner richtungslosen Oberflächlichkeit in einem Zerwürfnis mündet. Auch die scheinbare bunte Welt ist vergänglich. Eugen setzt seinen Weg ziellos allein fort. Greift seine schriftstellerischen Ambitionen wieder auf, schreibt wie besessen und bringt doch nichts zu Papier.

Erst die Begegnung mit einer Frau beendet seine Odyssee.

Von Zeit und Fluss schildert die Suche nach Identität und dem Sinn des Lebens eines jungen Menschen im Übergang in die Erwachsenenwelt. Eugen steht für die Bedürfnisse der Jugend, die mit der Entwicklung im Strom der Zeit fließen. Da ist der Wunsch nach Wildheit, nach Flucht aus der Einöde in die pulsierenden Städte. Die hervorgehobene Textzeile „O Vater, lass uns ziehn!“ des von Thomas Wolfe vorangestellten Textauszugs des Liedes der Mignon aus von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre unterstreicht diese Sehnsucht.

Es sind die Irrungen der Jugend, die mit der Zeit enttarnt werden. Auch Jugend ist vergänglich und das Hier und Jetzt wird von der Vergangenheit verdrängt. Erinnerungen, die zur Gegenwart werden. Die Eugens Körper mit Heimweh fluten. Eine Gemütsstimmung, die neben dem Heimweh Abschied beinhaltet. Diese inneren Gefühlswallungen werden an vielen Stellen mit dem Monat Oktober verbunden. Sich erinnern an den Geruch der Stoppelfelder und an die bunten Wälder heißt, sich an Abschiede zu erinnern. An den verflossenen Sommer, an die Heimat, an Freunde, an die Familie, an die Toten, ein Abschied vom bisherigen Leben und den bekannten Orten.

Thomas Wolfe blickt nicht nur auf die Entwicklung eines jungen Menschen. Es ist auch der Blick auf die Gesellschaft. Der Blick auf das Amerika zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in dem die Farbigen im Süden noch als Nigger betitelt und behandelt werden. In dem der Norden für Aufbruch steht. Ein Porträt mit weiten Landschaften, regionalen Eigenarten, Lebensweisen und Charakteren. Seine differenzierten Charakterdarstellungen zeichnen reale Bilder der Menschen in ihren Sozialmilieus. Nur bei den jüdischen Charakteren ist seine Zeichnung durchaus als problematisch anzusehen. Denn hier greift Wolfe in die klischeehafte antijüdische Schablonenkiste.

Der Blick auf Amerika ist zugleich aber auch eine Hommage an Amerika. Da ist das Pfeifen der Lokomotive des Pullmanzugs, der durch diese majestätisch grenzenlose Weite rauscht. Eine Symbolik von Art Déco verbunden mit Aufbruch, Ferne und Freiheit.

Da sind jedoch auch die Weite und die Abgeschiedenheit und mittendrin die zerwühlten Gefühle des Verlassenseins und der Vergänglichkeit. Eine Uhr mit Widmung, ein Geschenk des toten Bruders Ben, verdeutlicht den unumkehrbaren Fluss der Schöpfung von der Vitalität zum Zerfall.

Thomas Wolfe, Von Zeit und Fluss, Legende vom Hunger des Menschen in seiner Jugend, Roman, Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und umfassend kommentiert von Irma Wehrli, Nachwort von Michael Köhlmeier, Titel der amerikanischen Ausgabe: Of Time and the River. A Legend of Man’s Hunger in His Youth (1935), 2014 by Manesse Verlag, Zürich in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München, Gebundenes Buch, Leinen mit Schutzumschlag, 1.200 Seiten, 39,95 [D] | 41,10 [A] | CHF 53,90 * (* empf. VK-Preis), ISBN 978-3-7175-2326-0

© Soraya Levin