Der Autor Volker Harry Altwasser wagt sich mit seinem historischen Roman „Letzte Haut“ an ein äußerst sensibles Thema heran, den Holocaust. Als Vorlage für seine Erzählung nutzt Altwasser einen Teil der Lebensgeschichte des ehemaligen SS-Richters und Obersturmbannführers Dr. Georg Konrad Morgen, aus dem in „Letzte Haut“ Dr. Kurt Schmelz wird.

Aus der Sicht des 72jährigen Kurt Schmelz, der nach 40 Jahren so etwas wie Schuld unter seiner Haut entdeckt, schildert Altwasser die Handlung. Hauptort ist das Konzentrationslager Buchenwald im Jahr 1943. Der ehrgeizige und sich nur dem Recht verpflichtend fühlende Schmelz, ausgestattet mit einem Sonderbefehl von Himmler, soll im Lager herausfinden, ob der SS-Lagerkommandant Karl Koch in die eigene Tasche wirtschaftet und das Reich damit schädigt. Es ist der 8. Juni 1943, Schmelz 34igster Geburtstag, als er das Konzentrationslager Buchenwald betritt. Im Verlauf seiner Ermittlungen, bei dem ihm mit Dr. Tarnat und Liebig zwei Kriminalbeamte zur Seite stehen, bekommt er das ganze Ausmaß des verbrecherischen Systems zu sehen. Kaltblütig werden die jüdischen Häftlinge aufs grauenvollste von ihren SS-Bewachern misshandelt.

Barbarische Fantasien leben sich an den Gefangenen aus. Neben medizinischen Experimenten der alltägliche Hunger. Töten wird zur Lust und gehört zum System, Exekutionen und Berge voller Leichen, die Schornsteine des Krematoriums brennen Tag und Nacht. Doch Schmelz gerät moralisch keinesfalls unter Druck, sondern er verfolgt sein Ziel, Karl Koch dingfest zu machen. Einzig Liebig zeigt menschliche Regungen und kann mit der pervertierten entmenschlichten Situation körperlich kaum fertig werden. In den folgenden Tagen und Wochen entdecken die drei Ermittler, dass Koch den jüdischen KZ-Insassen, die ohnehin karge Nahrung stielt und sie auf den Märkten in Weimar zum Verkauf anbietet, dass er den Juden ihre letzten Wertgegenstände plündert. Und auch vor der Leichenfledderung macht er keinen Halt, lässt den toten Juden das Zahngold heraushauen und es einschmelzen. Er und seine sexsüchtige und gefühlskalte Frau Ilse bereichern sich skrupellos und ganz gezielt an den Opfern. Mitwisser werden beseitigt. Doch der Nachweis der Plünderungen ist für Dr. Kurt Schmelz schwer. Für eine Anklage reicht das gesammelte Ermittlungsmaterial noch nicht aus. Einziges Mittel für eine fundierte Anklage Kochs ist ein Mord. Makaber, denn Koch begeht tagtäglich einen durch das NS-System legitimierten Massenmord an den Lagerinsassen. Aber diese Morde sind angeordnet, es muss sich um eine unerlaubte Mordtat handeln. Für Schmelz liegt die einzige Beweismöglichkeit in der Tötung von vier russischen Häftlingen, die er moralisch damit rechtfertigt, dass diese vier Männer eh zum Tode verurteilt sind. Mit dem Vierfachmord gelingt die Beweisführung gegen Karl Koch. Er wird angeklagt und zum Tode verurteilt.

Nach der Kapitulation Nazideutschlands sagt Dr. Kurt Schmelz im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess als Zeuge aus.

Der 72jährige Schmelz hat durch seinen Gang in die Vergangenheit seine jahrelang unter der Haut vergrabene Schuld mit seinen Fingernägeln, die ihn buchstäblich häuten, hervorgeholt. Eine Schuld, die sich aber „nur“ auf die vier von ihm Ermordeten bezieht. Ein Schuldbewusstsein wegen der Verbrechen in den Vernichtungslagern und dem Völkermord an den Juden tritt nicht auf.

Wenn Kolja Mensing in der FAZ bei dem Buch von Volker Harry Altwasser „Letzte Haut“ von einer „...geschmacklosen Parodie auf den Holocaust...“ spricht, so geht seine Sichtweise doch zu weit. Altwasser hat kein Sachbuch geschrieben. Er hat sich vielmehr über die real historisch sehr kontroverse Figur des Dr. Georg Konrad Morgen alias seiner Romanfigur Dr. Kurt Schmelz an die finsterste Zeit deutscher Geschichte herangewagt. Sein Text ist passagenweise sicher nicht dunkel gehalten, an manchen Stellen sogar recht forsch. Aber vor dem Hintergrund, dass die menschenverachtenden pervertierten Verbrechen während des Holocaustes nicht von so genannten einzelnen Sadisten durchgeführt wurden, sondern gerade der ganz normale gewöhnliche Bürger, der Nachbar sowie der Familienvater teilhabende Kraft der Barbarei war, ist die Sprache und Stimmung dieser Leute auch ganz „gewöhnlich“ zu sehen. Wo war denn das martervolle quälende Gewissen der Beteiligten? Nicht während der Taten, nicht während des Zusehens, geschweige denn in der Nachkriegsära. Hier solch eines zum Ausdruck zu bringen, wäre fehl am Platze gewesen.

Auch das Altwasser seinen Protagonisten Dr. Kurt Schmelz als „Landser“ sprechen lässt, liegt nahe. Denn Dr. Kurt Schmelz ist Mitglied der SS, einer im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess eindeutig benannten verbrecherischen Organisation. Dass Altwasser aber seinen Dr. Schmelz bis 1943 als unwissend über den Holocaust darstellt, ist jedoch nur vor dem Hintergrund der vielfachen deutschen Selbstentlastungsversuche real. Denn auch Dr. Georg Konrad Morgen versucht sich im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zu entlasten, indem er nicht Himmler sondern Hitler die Schuld an dem geplanten Massenmord zuweist. Dementsprechend versucht er sich als ehemaliges Mitglied der SS rein zu waschen.

Der Schluss des Romans ist reine Fiktion. Hier lässt Altwasser seine Figur des Dr. Kurt Schmelz über seine moralisch-ethische Schuld des von ihm verübten Vierfachmordes in den Tod treiben. Dr. Georg Konrad Morgen hat solch eine Schuld – jedenfalls für die Öffentlichkeit wissend – nie eingestanden. Natürlich auch nicht die unsagbar immer währende Schuld der Mittäterschaft am Völkermord der Juden. Auch hier kein Wort in den Archivunterlagen von Dr. Georg Konrad Morgen. An diesem Punkt bleibt Altwasser bei der Wirklichkeit.

An anderen Punkten, nämlich da, wo er sich selbst noch mit ins Spiel bringt, in dem er einen Zeugen als Harry Altwasser bezeichnet, ist der Roman reine Erdichtung. Aber ob Wirklichkeit oder Fiktion. Der Roman rüttelt auf und weist im Sinne von Ralph Giordano auf die „zweite Schuld der Deutschen“ hin und macht die üblen Verstrickungen einer korrumpierten entmenschlichten Justiz im Dritten Reich deutlich. Einer Justiz, die die Augen vor den Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur verschließt, sondern mitmischt und fast ungesühnt ausgeht. Deutlich wird dieses insbesondere am Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, bei dem Dr. Georg Konrad Morgen alias Dr. Schmelz als Entlastungszeuge der Verteidigung eine Plattform erhält. Er wird im Folgenden entnazifiziert und arbeitet bis zu seinem Tod im Jahr 1982 als „unbescholtener Bürger“ und Notar in Frankfurt am Main. So geht das Nachkriegsdeutschland mit seinen Verbrechern um.

Ja, man kann und soll in der Kritik auch geteilter Meinung sein. Aber „Letzte Haut“ ist ein gut lesbares und zweifellos empfehlenswertes Buch, das auf leicht zugängliche Weise in das hochsensible Thema des Holocaustes hinführt und die „zweite Schuld der Deutschen“ sichtbar macht.

Volker Harry Altwasser, Letzte Haut, Roman, friktion 16, 480 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-88221-744-5, Matthes & Seitz, Berlin 2009, 22,80 / CHF 41,00

© Soraya Levin