Piccolo Mondo Antico

Antonio Fogazzaros Roman „Piccolo Mondo Antico“ entführt den Leser in das 19. Jahrhundert an den Luganersee. Dort beleuchtet er im Vorfeld des italienischen Unabhängigkeitskriegs eindrucksvoll die verschiedenartigen Konflikte einer Gesellschaft im Umbruch.

Im Fokus des Romans stehen die innere Zerrissenheit zwischen Verpflichtung und Leidenschaft, dem Einhalten religiöser Regeln und der Vernunft, die die alte Ordnung ins Wanken bringt, sowie familiäre Bindungen, politische Umwälzungen und persönliche Tragödien wie der Tod eines Kindes.

Der Roman ist untrennbar mit der Epoche der Moderne und ihren Umbrüchen verbunden. Die Romanfiguren sind zerrissen durch die Herausforderungen, die die zukunftsorientierte Zeit mit sich bringt. Insbesondere im Alltag, der die gesellschaftliche Kritik verdeutlicht.

Der Roman thematisiert den Konflikt zwischen Glauben und Vernunft, verkörpert durch die Protagonisten Franco und Luisa. Franco wendet sich nach dem Tod seiner Tochter Maria stärker denn je der Kirche zu, die für ihn wie ein Anker im  stürmischen Schmerz des Verlustes ist und ihm Trost und Sinn gibt. Luisa hadert mit der Sinnhaftigkeit von Marias Tod und entfernt sich zunehmend von der Religion, die ihr keine befriedigenden Antworten liefert. Luisas Verstand weist die kirchlichen Rituale zurück und sie fängt an, nach einer moralischen Orientierung jenseits religiöser Glaubenssätze zu suchen. Die Hoffnung, Maria in spiritistischen Sitzungen zu begegnen, verleiht ihrer sonstigen klar blickenden Art einen tiefen Riss, der mit Francos Gläubigkeit nichts gemein hat.

Anfangs ist es eine tiefe und intensive Leidenschaft, die Franco dazu treibt, die Standesgrenzen und den Widerstand seiner Großmutter zu überwinden und Luisa zu heiraten. Mit der Zeit schwankt die Liebe des Paares wie ein Boot, das auf dem Meer hin und her schaukelt.
Franco und Luisa stehen in einem ständigen Konflikt ihrer Weltanschauung, der ihre Beziehung extrem belastet. Es ist ihre Unfähigkeit, einander zu verstehen, da sie in ihrer jeweils eigenen Welt gefangen sind. Ihre Zweisamkeit steht durch diesen Konflikt dauerhaft unter Spannung. Eine Spannung, die den gesellschaftlichen Umbruch der Zeit widerspiegelt. Eine Zeit, in der die traditionelle religiöse Welt mit ihren Werten auf die rationale Denkweise mit Wucht aufprallt.

Die Spannungen zwischen Franco und seiner Frau verschärfen sich durch seine politischen Ansichten. Wie viele andere strebt er einen unabhängigen italienischen Nationalstaat an, der sich von der österreichischen Herrschaft löst. Die Behörden beobachten ihn genau, was zu Hausdurchsuchungen und angedrohten Verhaftungen führt. Angesichts der zunehmenden Repressionen flieht Franco nach Turin, wo er versucht, seine Familie mit Schreibarbeiten über Wasser zu halten. Vor allem, nachdem Luisas Onkel, bei dem sie wohnen, denunziert wird und er seine Stellung als Beamter verliert. Obwohl die Familie mittellos erscheint, ist sie es in Wirklichkeit nicht, da Franco Haupterbe eines Vermögens ist, das ihm seine Großmutter vorenthalten hat.

Luisa sieht das Erbe als einen praktischen Weg, um ihre Familie aus finanziellen Schwierigkeiten zu befreien. Franco hingegen lehnt seinen Anspruch aus Loyalität und moralischen Gründen der Familie gegenüber ab.
Er symbolisiert an dieser Stelle den Erhalt von Traditionen, wie Loyalität und der göttlichen Fügung. Luisa verkörpert hingegen den Fortschritt in die Moderne.

Der italienische Unabhängigkeitskrieg durchdringt das Leben der Protagonisten und ist allgegenwärtig. Er trennt Franco von seiner Familie. Selbst der Tod der Tochter Maria verdeutlicht den enormen politischen Druck, der auf Franco lastet, da er ein hohes Risiko auf sich nimmt, um nach Hause zu kommen. Sein Eintritt in den Kriegsdienst verstärkt zunächst die Entfremdung zu Luisa. Der Schatten über ihrer Beziehung lastet schwer auf ihnen, doch ein kleiner Hoffnungsschimmer für die Zukunft leuchtet auf: Luisa ist erneut schwanger.

In seinem Roman zeichnet Fogazzaro ein lebendiges und detailreiches Bild der norditalienischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Die Enge dieser kleinen, alten Welt wird durch die Marchesa, Francos Großmutter, greifbar. Sie verkörpert die alte Welt der Adelsfamilien, die sich gegen die liberalen Entwicklungen stellen.

Der Konflikt zwischen Tradition und Moderne, die Bedeutung von Stand und Herkunft, der Einfluss der Religion sowie politische Unterdrückung und Freiheitsstreben prägen das Leben der Figuren. Geschickt fügt der Autor das immer wiederkehrende Motiv des Tarockspiels ein. Es ist ein Hinweis darauf, dass im Alltag nach Freiräumen gesucht wird, die die kleine, alte Gesellschaft überwinden. Das Tarockspiel, bei dem der nicht laut ausgesprochene, aber ersehnte italienische Freiheitskampf zur Bildung einer Nation mitspielt, ist ein Spiel gegen die österreichischen Herrscher. Es findet im Safe Space statt, da das Treffen zum Kartenspiel unverdächtig ist. Die Karten symbolisieren ein Stück Meinungsfreiheit in unterdrückten Zeiten.

Für Franco sind die Dichter Foscolo und Giusti wichtige Vorbilder, die sein Streben nach Individualität, Freiheit und nationaler Unabhängigkeit prägen. Der Autor scheint diese beiden Dichter bewusst gewählt zu haben, da sich ihre Werke thematisch mit der nationalen Einheit, mit dem Streben nach Freiheit und der Befreiung aus der österreichischen Umklammerung beschäftigen.

„Piccolo Mondo Antico“ ist ein historischer Roman, der die Leser in die norditalienische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zur Zeit des Risorgimento eintauchen lässt. Der Autor, Fogazzaro, beleuchtet geschickt die zentralen Fragen und Konflikte der Moderne durch eine bildhafte Sprache und lebendige Szenerie. Er bietet einen fesselnden Einblick in eine Gesellschaft, die zwischen Tradition und Aufbruch steht, und ermöglicht es den Lesern, die Zeit durch die Augen der Charaktere zu erleben.
Trotz einiger Übersetzungsfehler und obwohl die Sprache für die heutige Zeit ungewohnt ist, wird das Lesevergnügen an keiner Stelle geschmälert.

Antonio Fogazzaro, Piccolo Mondo Antico. Kleine alte Welt, aus dem Italienischen von Maria Gagliardimit Grafiken von Florian L. Arnold, 1. Auflage, Mediathoughts Verlag - Dr. Glaw + Lubahn GbR 2025,Taufkirchen, Hardcover, 588 Seiten, 26 €, ISBN 978-3-947724-54-3

von Soraya Levin