Wenn es eine Geschichte gibt, die auf zauberhafte Weise ein philosophisches Rätsel behandelt, das sich zu entdecken lohnt, dann ist es Minous Geschichte. Ein wunderbares Jugendbuch, das nicht nur Kinder überrascht.

Mette Jacobsens Kinder- und Jugendbuch ist eine philosophische Fantasiereise in die Welt René Descartes. Ob Kind oder Erwachsener, wir alle sind auf der Suche nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens. Mette Jacobsen hat diese Suche in ihrem philosophischen Roman Minous Geschichte für Kinder entsprechend umgesetzt. Sie lässt ihre Figuren die Wahrheit suchen, die sich irgendwo draußen auf einer kleinen Insel versteckt. Hier auf dieser Insel, die auf keiner Karte verzeichnet ist, die so klein ist, dass nur zwei Häuser und eine Kirche auf ihr Platz haben, hier beginnt Minous Geschichte.

Das Mädchen Minous ist zwölf Jahre alt, als ihre Mutter auf schleierhafte Weise verschwindet. Während die restlichen Bewohner, zu denen Minous Vater, der Zauberkünstler Kistenmann und der Priester gehören, nach einem gefundenen Schuh der Mutter davon ausgehen, dass das Meer sie verschlungen hat, glaubt Minous, dass die Mutter noch lebt. Sie versucht wie Descartes der Wahrheit über viele kleine Schritte und methodisch analytisch nahe zu kommen. Sie sammelt Argumente und Beweise. Ist der gefundene Schuh der Mutter ein Beweis für ihren Tod? Täuscht er vielleicht nur den Tod der Mutter vor? Spuckt das Meer nicht alles wieder aus, was es verschlingt? Auch die Mutter wäre wieder ausgespuckt worden.

Während Minous es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Beweis zu bringen, dass die Mutter noch lebt, hat sich der Vater ganz der Suche nach der Wahrheit hingegeben. Gezeichnet von einem durchlebten Martyrium im Krieg, sucht er nach vernünftigen Antworten für das Geschehen.

Der Vater nährt sich allen Fragen des Lebens und den Ereignissen mit logischen Argumenten. Die verschwundene Mutter hingegen wird von der Autorin als Gegenpart gezeichnet. Sie ist fantasiereich, malt die Welt in bunten Bildern, trägt im roten Haar Federn und träumt in den Tag. Die Frage der Wahrnehmung rückt durch diese Gegensätzlichkeit in den Vordergrund. Sind die Träume nur eine Illusion oder ist die vermeintliche Realität die Illusion? Dieser philosophische Gedanke der Täuschung taucht ebenfalls bei dem Zauberkünstler Kistenmann auf. Sein Zaubertrick der zersägten Jungfrau ist eine gewaltige Täuschung. Ebenso taucht der Gedanke der Illusion und der Frage, was ist die Wahrheit, bei der Figur des Priesters auf. Dieser fürchtet sich vor der Dunkelheit und lässt während der Nacht das Licht in der Kirche brennen. Auch hell und dunkel täuschen darüber hinweg, was tatsächlich da ist.

Mit dem plötzlichen Auftauchen eines toten Jungen am Strand mündet die Frage nach der Wahrheit in ihrem Zenit. Verwundert stellen Minous und ihr Vater fest, dass der Tote sie an Descartes erinnert. Der Vater und Minous beherbergen den toten Gast für drei Tage in ihrem Haus. Drei Tage, die auf geheimnisvolle Weise die Mutter in der Wahrnehmung wieder zurückbringen. Ein unerklärlicher Orangenduft, der von dem Toten ausgeht, lässt die Inselbewohner sich der Illusion hingeben, dass die Mutter ihren Orangenkuchen gebacken hat. Der Tote bringt dem Vater ein Stück Lebensquell, denn der Vater hat in ihm einen Gesprächspartner gefunden, der ihn sogar zum Lachen bringt.

Minous philosophisches Fundstück ist eine Postkarte, die der tote Junge bei sich trägt. Noch weiß Minous nicht, dass diese Karte das Licht zur Wahrheit ist. Als Minous den Ort des Poststempels im Atlas nachschlägt, stößt sie neben dem gefundenen Ort in China auf eine Notiz der Mutter „Ich schwöre feierlich, dieses großartige Land zu besuchen, bevor ich sterbe“. Manchmal sind kleine Zufälle fürs große Ganze entscheidend. Und ist nicht gerade dieser Eintrag der zufallsbringende Beweis, dass die Mutter noch lebt?

Als der tote Junge nach drei Tagen von der Insel abgeholt wird, findet Minous in diesem Moment die lang gesuchte Wahrheit.

Mette Jakobsen nimmt den Leser mit auf eine philosophische Erkenntnisreise nach der Frage, ist das, was wir sehen und was wir für selbstverständlich halten, die Wahrheit? Zur Illustration schafft sie eine ganz kleine versteckte Insel, die, obwohl es sie auf keiner Karte gibt, scheinbar doch existiert. Ihre Figuren stellen immer die Frage nach dem, was Illusion und was Wahrheit ist. Vom Zaubertrick bis zum tatsächlich Gefühltem. Von der Realität bis zur Fantasie. Vom Leben bis zum Tod. Immer wieder stellt sich die große Lebensfrage, die da lautet: Kann es nicht doch sein, dass unsere Wahrnehmung nur eine Täuschung ist?

Mette Jakobsen, Minous Geschichte, Titel der Originalausgabe The Vanisching Act bei the Text Publishing Company, Melbourne/Australien 2011, Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit, Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher, 2012 Berlin, ca. 226 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, ca. 16,90 [D], ca. 17,40 [A], ISBN 978-3-8270-5499-9

© Soraya Levin