Wenn ein Junge in die biblische Geschichte eintaucht und sich vorstellt, David zu sein, um seinen Nachbarn mit der Steinschleuder zu töten, dann könnten wir glauben, der Nachbar heißt Goliath. Aber es ist nicht ein Krieg wie zwischen den Israeliten und den Philistern, den der kindliche Augenzeuge Edgar Feuchtwanger in der Rückblende seines Lebens erzählt. Es ist der Schrecken des grausamen Naziterrors, der die glücklichen Kindheitstage in München hinwegfegt. Besetzt mit einem Bild, dem Bild seines Nachbarn Adolf Hitler.
Vom fünfjährigen Kind bis zum fast fünfzehnjährigen Jungen ist Edgar, der von seinen Eltern liebevoll Bürschi genannt wird, der stille Beobachter einer Dekade, die wie ein auf das Wasser geworfener Stein immer größere Kreise zieht und die Feuchtwangers von Deutschen zu entrechteten und gejagten Juden macht. Adolf Hitlers antisemitisches Propagandawerkzeug Mein Kampf kündigt diesen Prozess bereits an. In der zehnjährigen Rückblende ist jedem Jahr ein entsprechender Passus aus der Schrift vorangestellt.
Es ist eine großbürgerliche Familie, in die Edgar 1924 hineingeboren wird. Sein Vater Ludwig Feuchtwanger ist Leiter und Verleger bei Duncker und Humblot. Sein Onkel Lion ist Schriftsteller und veröffentlicht 1925 sein Buch Jud Süß. Verwandt sind sie mit dem einflussreichen Kunstsammler Otto Bernheimer.
Edgar, ein deutsches Kind in den 1920er und 1930er Jahren. Kind sein in einer Zeit der sozialen Umbrüche und Verwerfungen. Der Erste Weltkrieg und die junge Republik produzieren Gewinner und Verlierer. Auf der einen Seite die großbürgerliche Familie Feuchtwanger, die teilhat an den Goldenen 20er Jahren. Zwischen Parkett, Klavier und Oper, Tanz unter Konfettiregen und Kaffeehausatmosphäre im Münchner Fürstenhof, Schokoladeneis mit Sahne, Ferien am See und Fahren im Cabriolet scheint das Leben unbeschwert. Auf der anderen Seite die sozial Verelendeten, die täglich klingelnden und von der Mutter versorgten Bettler, die auf die extremen Gegensätze und die soziale Lage innerhalb der Weimarer Republik hinweisen. Der Erste Weltkrieg hinterlässt eine Armut breiter Massen, die sich mit dem Schwarzen Donnerstag 1929 noch verstärkt. Der Börsencrash, der auch Edgars Onkel Heinrich trifft, bringt die ohnehin schon taumelnde Weimarer Republik ins Wanken.
Zudem drückt der verlorene Krieg auf die junge Republik. Die französische Schmach sitzt tief. Selbst die Kinder haben diese Symbolik in ihrem Spiel übernommen. Edgar versetzt sich in seiner Fantasie auf die Schlachtfelder und trägt siegreiche Kämpfe gegen die Franzosen aus. Siegreich wollten sie sein. Selbst Onkel Berthold spricht von der Dolchstoßlegende. Die Verantwortliche für den verlorenen Krieg hat einen Namen. Sie heißt Weimarer Republik. Wie viele Deutsche mit ihm, steht Berthold nicht hinter derDemokratie und die Revisionisten sind auf dem Vormarsch.
Einen Gegenpart verkörpert das von Bertil Scali bewusst zur literarischen Figur gemachte Kindermädchen Rosie. Sie ist die symbolische Trägerin von Rosa Luxemburg und setzt damit ein deutliches Zeichen gegen den Nationalstaat, gegen den Militarismus und gegen den Revisionismus.
Der Zeitgeist ist überall spürbar. Die Eltern sprechen nur noch über „Jude, Krieg, Hitler“. Die politische Instabilität und ein stetiges Wachsen der radikalisierenden Kräfte werden an den Aufmärschen am gegenüberliegenden Haus des Nachbarn Adolf Hitler sichtbar. Während die extremen Kräfte die Republik bedrohen, wächst die rechte Gefahr mit dem Erstarken der NSDAP.
Edgars Vater sieht es als Fehler an, dass Hitler seine Strafe nach dem Putsch 1923 nicht abgesessen hat. Er schätzt die Situation richtig ein, denn der Hitlerputsch 1923 hat sich ja in seiner Entschiedenheit gegen die Republik gerichtet. Die geringe Haftstrafe und die Aufhebung des Verbots der NSDAP weisen darauf hin, dass die Stützen der Republik keine Republikaner gewesen sind. Die tradierten Kräfte des ehemaligen Kaiserreichs haben die republikanischen Inhalte nicht adaptiert geschweige denn assimiliert und geben einen Anschub für die NSDAP. Fast jeder Fünfte hat ihr seine Stimme gegeben und in dem Maße, in dem sich der Anteil für die NSDAP bei der Reichstagswahl im Sommer 1932 nochmals steigert, in dem Maße steigert sich auch die Hetze gegen die Juden. Eine Hetze mit dunklen Folgen, die Edgars Onkel Lion bereits in seinem 1930 veröffentlichtem Roman Erfolg beschreibt. Es ist ein Kassandraruf der heraufkommenden Nazigefahr, der ungehört bleibt. Ungehört bleiben auch die für Edgars Vater bedrohlichen Aussagen Adolf Hitlers in Mein Kampf.
Wie sich zeigen wird, ist Hitlers Mein Kampf nicht nur Hitlers Kampf gegen die „jüdisch- marxistische Brut“. Hitlers Weggefährtin heißt Deutschland. Mein Kampf weist dementsprechend auf einen Kampf hin, den Hitler gemeinsam mit Deutschland, mit der deutschen Bevölkerung gegen die „jüdisch-marxistische Brut“ führt.
Das perfide System durchdringt langsam die Gesellschaft und zerstört selbst kindliche Bande. Edgars engster Freund Ralf kündigt ihm die Freundschaft und in der Schule, wo Hitler heroisiert wird, ist er in den Pausen allein. Edgar beobachtet und fühlt den stetigen Wandel, den sein kommunistisches Kindermädchen Rosie für ihn entschlüsselt.
Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler kommt die Bedrohung für die Feuchtwangers immer näher. Edgars Onkel Lion wird in Deutschland von den Nazis verfolgt. Auf Anraten kehrt er nicht von einer Lesereise nach Deutschland zurück. Neben den jüdischen Autoren sind auch nichtjüdische systemkritische Autoren wie Thomas Mann zur Emigration gezwungen. Je mehr Weimar zerbricht, desto mehr diskutieren die Eltern über eine Auswanderung.
Mit dem Reichtagsbrand im Februar 1933 und der Notverordnung und dem Ermächtigungsgesetz ist die Weimarer Republik wie Edgars Vater sagt, beendet. Alle Grundrechte sind außer Kraft gesetzt. Es wird bereits über das KZ Dachau gesprochen. Die Gefängnis- und Folterstätte für politische Gegner und für Juden.
Der Bruch mit dem Versailler Vertrag und der Austritt aus dem Völkerbund sind bereits ein eindeutiges Indiz für die Zielsetzung Hitler Deutschlands Richtung Krieg gewesen, dem international auch zum Unverständnis der Feuchtwangers nichts entgegengestellt worden ist.
Im Januar 1935 erfolgt mit der Rückkehr des Saarlandes in das Deutsche Reich „die friedliche Eroberung“ wie Edgar sie nennt. Ein Friede, der aber einzig dem Versailler Vertrag geschuldet ist, der eine entsprechende Volksabstimmung vorgesehen hat. Eine kriegerische Intervention hat sich erübrigt.
Neben der sich verändernden Welt erleben wir in der Erzählung immer wieder Momente einer gewissen Normalität. So im Café Fürstenhof mit seinem großen gediegenen Saal. Ein runder Tisch reiht sich hier an den anderen, alle voll besetzt, Kellner mit schnellen Schritten und vollgefüllten Tabletts. Hier haben sie gesessen, die Bürgerlichen, die Intellektuellen, haben gelesen, haben diskutiert.
Die Entrechtung der Juden geht voran. Mit den Nürnberger Gesetzen erfolgt der Ausschluss aus den öffentlichen Ämtern, aus dem kulturellen Bereich und aus dem sozialen Leben sowie eine Zerstörung der Einkommenssicherung. Im Verlag Duncker und Humblot ist Ludwig Feuchtwanger seinen Posten los. Jetzt ist der Vater plötzlich zu Hause, wo er die noch wenigen zu ihm haltenden Schriftsteller empfängt. Einige wie Martin Buber haben ein Veröffentlichungsverbot. Andere, wie der vom Vater bewunderte Staatsrechtler Carl Schmitt, brechen jeden Kontakt ab.
Carl Schmitt, ein Steigbügelhalter Hitlers. Carl Schmitt, Mitglied der NSDAP, Demokratiegegner und Judenhasser. Einer, der die Meinung vertritt, „Der Jude hat zu unserer geistigen Arbeit eine parasitäre, taktische und händlerische Beziehung.“ Und einer, der hinter den Nürnberger Rassegesetzen steht.
Für Edgar ist die sich verändernde Realität schwer einzuordnen. Auf der einen Seite ist er stolz, dass das Saarland auf friedliche Art und Weise wieder zu Deutschland gekommen ist. Auf der anderen Seite jubelt er nicht mit seinen Klassenkameraden mit, als der Lehrer verkündet, dass die Wehrpflicht wieder eingeführt wird und sie wieder eine starke Armee haben werden. Denn mit dem Nürnberger Parteitag im September 1935 ist offiziell festgelegt worden, dass er als Jude nicht dazu gehört. Jetzt gibt es Arier und Nichtarier, Reichsbürger und Nichtreichsbürger. Ein bedrückendes Gefühl für Edgar, der einfach nur Deutscher sein möchte. Edgar, dessen Familie seit 1555 in Deutschland lebt. Wer kann deutscher sein? „artverwandtes Blut“ heißt es nun. Volljude, Mischling, Arier, die Zuweisung entscheidet über den Verlust von Bürger- und Menschenrechten und letztlich über Leben und Tod. Was einzig zählt ist die Volksgemeinschaft, sichtbar im Film Triumpf des Willens von Leni Riefenstahl. Eine Propagandainszenierung, wo es einzig um den Führer und das deutsche Volk geht, in dem die jüdischen Edgars keinen Platz haben.
Von einem Tag zum anderen sind die Juden entrechtet und aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Verschwunden ist auch Edgars Kindermädchen Rosie. Rosie ist unter 45 Jahre und in ihr fließt deutsches Blut. Daher darf sie nicht mehr für Juden arbeiten. Edgars Blut ist auch deutsch.
Während der Vater vor dem neuen Blaupunkt Radio sitzt und Informationen über Deutschland über Radio Luxemburg empfängt, träumt Edgar von seiner Olympiateilnahme im Jahr 1936.
Die olympische Idee beinhaltet die Völkerverständigung und menschliche Moral. Die Nürnberger Rassegesetze stehen dem entgegen. Zu recht fragen sich die Feuchtwangers, warum die internationale Staatengemeinschaft kein sichtbares Zeichen setzt. Einzig Edgar setzt ein Zeichen. Er sieht sich den Film Olympia von Leni Riefenstahl nicht an und freut sich über den schnellsten Mann der Welt, den Farbigen Jesse Owens.
Der Vater versucht ein Stück Normalität und Alltag aufrechtzuerhalten. Kleidet sich wie zu seinen Verlagszeiten und arbeitet für eine kleine jüdische Gemeindezeitung. Es ist jedoch ein Wunschbild, um der Wirklichkeit zu entkommen. Der Alltag, der sieht anders aus und kleidet sich in sozialer Ausgrenzung und Terror. An den Geschäften Schilder „Für Juden und Hunde Zutritt verboten“. Bereits zwei Jahre nach Olympia brennen nicht nur die Synagogen, sondern auch Menschen. Mit dem Novemberpogrom vom 9. zum 10. November 1938 zeigt die Terrorfratze ihr endgültiges Gesicht. Der Jude ist zur Jagd freigegeben.
Der öffentliche Raum wird für Juden zur Sperrzone. Jetzt gibt es keine ökonomische und gesellschaftliche Teilhabe mehr. Edgars sozialer Raum wird immer begrenzter und konzentriert sich fast nur noch auf die Wohnung, von wo er sehnsüchtig den Tennisplatz beobachtet. Die gezielte Ausschaltung und Hetze spiegelt sich auch in der Presse wider. Vorneweg Der Völkische Beobachter und Der Stürmer. Seitenweise Karikaturen über den Unglück bringenden Juden, der leicht an seiner Hakennase zu erkennen ist. Aber Edgar hat keine Hakennase. Antisemitische Karikaturen und schlimmste Verunglimpfungen gegen Juden heizen die Propaganda an und geben der lechzenden Bevölkerung Futter. Die Juden sind „Betrüger, Verbrecher, Vergifter, Schwindler, Waffenschieber ...“. Der Stürmer titelt dauerhaft „Die Juden sind unser Unglück“. Bereits im Juli 1934 lautet die Schlagzeile „Wer ist der Feind? Weltkriegshetze und die Judenprotokolle von Basel. Europa am Schächtmesser“ und im Dezember 1938 „Ist die Judenfrage gelöst? ... Der Kampf geht weiter“. Der Kampf, Mein Kampf, Unser Kampf. Ein Kampf des deutschen Volkes gegen seine eigenen nichtkämpfenden Mitbürger. Er ist nicht mehr lautlos, der Antisemitismus brüllt seinen Terror nicht nur heraus, er schlägt nun um sich. Für die Feuchtwangers wird ein Asyl immer dringlicher.
In München zeigen sie entartete Kunst, während Hitler bereits über eine Annektion Österreichs nachdenkt. International ist man beunruhigt, niemand möchte politische Instabilitäten und geopolitische Machtverschiebungen. Die Tschechei wird annektiert und die internationale Politik ruft „Frieden“. Der Ruf nach Frieden hat jedoch seinen wichtigsten Inhalt vergessen: die Einhaltung der Menschenrechte und den Schutz der jüdischen Bevölkerung.
Mit der Reichspogromnacht ist die Hemmschwelle restlos überwunden. Der Vater wird von der Gestapo verschleppt. Wochen später erkennt Edgar ihn, abgemagert und entstellt, kaum wieder. Edgar ist jetzt übrigens nicht nur Jude. Nein, er ist auch Israeli. So steht es im Schulzeugnis. Und einen zweiten Vornamen hat er auch bekommen. Jetzt heißt er Edgar Israel Feuchtwanger.
Jeden Tag geht Edgar am Haus Hitlers vorbei. Ein jüdischer Junge, von dem Hitler nichts weiß. Ein jüdischer Junge, der sein bisheriges Leben verloren hat. Selbst Weihnachten fällt 1938 erstmalig aus. Die Eltern sind verzweifelt. Immer neue Schreckensmeldungen über gefolterte und tote Juden belasten die Beziehung. Die Mutter möchte weg, doch niemand will sie haben und „in dem Maße, in dem ihre Welt zusammenschrumpft, vergrößert sich“ die Welt von Adolf Hitler.
Die Grenzen sind fast zu. Die internationale Staatengemeinschaft schirmt sich mit den auf der Konferenz von Evian 1938 beschlossenen rigiden Einreisemöglichkeiten für die um Hilfe suchenden Juden ab.
Dass die Feuchtwangers noch rechtzeitig nach Großbritannien flüchten können, haben sie den guten Kontakten von Lion Feuchtwanger und der enormen finanziellen Unterstützung einiger Weniger zu verdanken. Sie, die als Emigranten bezeichnet werden, wandern nicht freiwillig aus. Daher bleiben und sind sie immer Flüchtlinge. Sie sind nicht nur ihrer Heimat beraubt, sondern auch ihres Vermögens. Die Werte der Feuchtwangers werden als Plunder bezeichnet und entsprechend entlohnt. Das Reich bereichert sich und bestiehlt hemmungslos seine ausgegrenzten Bürger.
Endlich klappt es mit dem Visum. Am 14.2.1939 reist Edgar zunächst allein nach Großbritannien aus. Die Feuchtwangers verlassen Deutschland gerade noch rechtzeitig. Denn ab 1941 sind die Fluchttüren endgültig geschlossen. Edgar erlebt innerhalb dieser zehn Jahre seine Entwurzelung mit. Vom Deutschen wird er zum entrechteten Juden. Das bisher unberührte Leben fällt der antisemitischen Hyäne namens Deutschland zum Opfer.
Edgar, ein deutscher Junge, dessen Leben im Licht begann und in der Dunkelheit geendet hat, kann wieder lächeln, weil er weiß, dass er ein Zeitzeuge ist. Am 04.12.2012 erinnert Edgar sich nicht mehr an die Emotionen, die mit der verlorenen Welt einhergegangen sind. Einzig das Meer in Holland, wo er an Bord eines Schiffes Richtung Großbritannien ein neues Leben in Angriff genommen hat, das riecht er noch.
Im Nachwort weist der Autor Bertil Scali, der mit Edgar diese autobiografische Reise unternommen hat, auf die Bedeutung der biografischen Erinnerungsarbeit hin. Durch Aufschichtungen ist es manchmal nicht ganz klar, sind das jetzt meine Erinnerungen oder die der Eltern oder anderer. In der feingliedrigen Rückschau unterscheiden sich jedoch Stück um Stück die Verwischungen der Perspektiven. Es hat lange gedauert, bis Edgar sich auf diese Spurensuche, der er sich mit fast fünfzehn Jahren sicher gewesen ist, begeben hat und bereit gewesen ist, sich an das Deutschland seiner Kindheit zu erinnern.
Er ist der kindliche, der jugendliche Augenzeuge gewesen, der jüdische Nachbar Adolf Hitlers. Gerade diese Augenzeugen sind es, die uns Zeitgeschichte nicht nur anhand von Zahlen, sondern von Emotionen und vor allem von und an Menschen sichtbar machen.
Chapeau! Edgar Feuchtwangers durch Bertil Scalis aufgeschriebene Erinnerungen Als Hitler unser Nachbar war. Erinnerungen an meine Kindheit im Nationalsozialismus ist ein ausgezeichnetes Zeitdokument, welches Geschichte, Politik und gesellschaftliches Handeln am Beispiel eines deutschen Jungen auf dem Weg zum entrechteten und gejagten Juden auf eine einzigartige Weise sichtbar macht. Kein Abriss von Zahlen und Fakten wie in Geschichts- und Sachbüchern. Nein, hier wirken Menschen. Denn politisches und gesellschaftliches Handeln erfolgt durch Menschen und wirkt auf Menschen. Dieses Buch gibt ihnen ein authentisches Gesicht. Hier ist der Leser in jeder Szene dabei. Wenn Edgar seine Rosinensemmel verträumt in die heiße Schokolade tunkt, wenn er am Himmel ein Luftschiff sieht, wenn die Eltern unter einem Konfettiregen tanzen, wenn Rosie ihm ein Bad einlässt, wenn er am Wasser spielt, wenn er seinen Nachbarn Adolf Hitler beobachtet, wenn sein Freund Ralf nicht mehr mit ihm spricht, wenn er seine Eltern beim Gespräch belauscht oder den Vater ins Café Fürstenhof begleitet. Edgar ist ein Kind. Ein Kind, das die Aussagen und das Geschehen noch nicht einzuordnen vermag, ein Kind, das aber bereits Ängste verspürt. Auch der Leser verspürt sie, diese Ängste und die heraufkommende Gefahr.
Die Frage ist, wie geht die Zeit mit der hinterlassenen Dunkelheit um? Sich erinnern, sich erinnern und sich nochmals erinnern, denn sich erinnern heißt die Wirklichkeit verstehen. Und verstehen bedeutet vielleicht die voller Hass gefüllten Keimzellen rechtzeitig zu erkennen und vielleicht die Hoffnung nicht zu verlieren, doch etwas dagegen setzen zu können.
Edgar Feuchtwanger, Bertil Scali, Als Hitler unser Nachbar war. Erinnerungen an meine Kindheit im Nationalsozialismus, Originaltitel: Hitler mon voisin, Originalverlag: Michel Lafon, Aus dem Französischen von Antje Peter, gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 224 Seiten, Siedler Verlag, München 2014, ISBN 978-3-8275-0038-0, € 19,99 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,50 * (*empf. VK-Preis)
© Soraya Levin