Ein ganz "normales" Klassenbild? Nein, Irrtum! Dieses Bild ist ein perfektes Lehrstück, das die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in der Nahaufnahme zeigt.
Klassenbild mit Walter Benjamin. Wir erwarten ein Erinnerungsfoto einer Abschlussklasse und finden eine Momentaufnahme mit Lebensspuren. Der Autor gibt dem Bild Leben, in dem er die mit der Historie gekoppelten Lebensschicksale der Schüler sichtbar macht. Das Herauslösen aus der abstrakten Masse und die Betrachtung der individuellen Perspektive macht aus den stummen historischen Zeitzeugen plötzlich hörbare, die im Gedächtnis haften.
Dieses beiläufig entdeckte Klassenfoto, das sinnbildlich für den Aufstieg und Untergang der Belle Époque und für eine Generation inmitten zweier Weltkriege steht, ist kein schlichtes Foto. Es liefert einen Blick von den einzelnen Persönlichkeiten auf die deutsche Sozialgeschichte vom Kaiserreich bis nach 1945.
Das Porträt zeigt Schüler der Kaiser-Friedrich-Schule in Berlin-Charlottenburg, die im Jahre 1912 ihre Reifeprüfung ablegen. Einer aus der Abschlussklasse ist der berühmte deutsch- jüdische Literaturkritiker und Philosoph Walter Benjamin.
Die überwiegende Mehrheit der Schüler kommt aus Familien mit einem hohen sozialen Status. Die Väter sind entweder beim Staat in exorbitanter Stellung beschäftigt oder sind zu Wohlstand gekommen und gehören zum sogenannten Geldadel. Begünstigt wird der soziale Aufstieg durch die Wandlung Preußens vom Agrar- zum Industriestaat. Das pulsierende Berlin zieht magnetisch jüdische Familien aus den deutschen Ostprovinzen auf ihrer Flucht vor Antisemitismus sowie gesellschaftlicher und kultureller Tristesse an.
Walter Benjamin und seine Klassenkameraden sind assimilierte Juden. Doch trotz ihrer Anpassung und Wirtschaftsleistung grenzt das aufstrebende Preußen die jüdischen Mitbürger aus. Die antisemitischen Stereotype ziehen beharrlich ihre Kreise und durchdringen den gesellschaftlichen Alltag.
Als das Studentenleben für die Schüler der Abschlussklasse von 1912 beginnt, ahnen die jungen Männer nicht, dass sie an einem Wendepunkt stehen und die kommenden Jahre sie in den Krieg führen werden. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 zerbricht die bürgerliche Idylle.
Die gesellschaftliche Mehrheit befürwortet und bejubelt den Krieg. Fast ausnahmslos melden sich die im preußischen Untertanengeist erzogenen Schüler der Abschlussklasse von 1912 freiwillig zum Kriegsdienst.
Die Burgfriedenspolitik Wilhelm II, in der er bekennt, dass er keine Parteien, keine Konfessionen oder Stämme mehr kennt, sondern nur noch Deutsche, ist für die deutschen Juden ein Rettungsanker gegen den Antisemitismus. Im Feld können sie ihren Patriotismus beweisen.
Die anfängliche Kriegsbegeisterung kippt, als sich abzeichnet, dass der Krieg verloren geht. Mit dem Sinken des alten Europas steigt der Bedarf nach einem Entlastungsventil. Die Verantwortlichen für die Kriegsverluste sind ausgemacht: Die Juden. In einer öffentlichen von Judenhass geschürten Propaganda werden sie als Drückeberger beschimpft und der Kriegsminister ordnet eine Untersuchung über genau diese jüdische Drückebergerei an.
Eine ehrverletzende Verunglimpfung, die sich als nicht haltbar erweist und daher auch nicht veröffentlicht wird. Hatten nicht gerade die deutschen Juden in Vertretung durch den „Reichsverein der Deutschen Juden“ und der „Zionistischen Vereinigung für Deutschland“ in der „Jüdischen Rundschau“ 1914 einen Aufruf zum Patriotismus gestartet mit den Worten „Deutsche Juden - In dieser Stunde gilt es für uns aufs neue zu zeigen, dass wir stammesstolzen Juden zu den besten Söhnen des Vaterlands gehören. Der Adel unserer vieltausendjährigen Geschichte verpflichtet. Wir erwarten, daß unsere Jugend freudigen Herzens freiwillig zu den Fahnen eilt....“. Ein Patriotismus, der nun mit antijüdischem Schmutz beworfen wird.
Der Kampf für das Vaterland endet im November 1918. Der Krieg ist zu Ende, das Kaiserreich ist am Ende und das Leben von Millionen Menschen, darunter auch Schüler der Abschlussklasse von Walter Benjamin, ist beendet. Die lebendigen Opfer kehren erstarrt und kriegsversehrt aus dem Krieg in ein verändertes Land zurück.
Die erste demokratische Republik, die am 9. November 1918 ins Leben tritt, ist von Beginn an todgeweiht. Von vielen deutschen Juden begrüßt, da ihnen die gleichen staatsbürgerlichen Rechte zu teil werden, wird sie weitgehend von den alten Obrigkeiten abgelehnt, ist sie permanenten politischen und sozialen Grabenkämpfen und Widerständen ausgesetzt. Selbst die Schüler der Abschlussklasse von 1912 sind mit dem Parlamentarismus nicht vertraut und nur einer von ihnen, Fraustädter, steht der jungen Demokratie bis zum Ende bei.
Die überlebenden Schüler nehmen überwiegend ihr Studium wieder auf, ohne sich allzu sehr um die junge Demokratie zu kümmern, die mittlerweile in einem gefährlichen Mix von sozialen Spannungen im Chaos versinkt. Mit ihrem Niedergang wuchern die antijüdischen Ressentiments, die im Politischen in der Ermordung des deutsch-jüdischen Außenministers Walter Rathenau münden.
Ein Geflecht von einer kraftlosen Demokratie und Antisemitismus begünstigt den Aufstieg der NSDAP. Für die deutschen Juden wird das Ende von Weimar ihr letztes Kapitel. Ab dem 30. Januar 1933 ist der deutsche Weg von terrormäßiger Ausgrenzung und Verbrechen gezeichnet. Der staatlich verordnete und gesellschaftlich getragene Antisemitismus beraubt die Juden um ihr Eigentum und ihre Existenzgrundlage, treibt sie aus den Ämtern, treibt sie aus dem Land, treibt sie in den Tod.
Eine deutsch-jüdische Generation zwischen den Kriegen, deren einzige Gemeinsamkeit das Klassenbild wird. Ab 1933 handelt es sich bei der Betrachtung um eine geteilte Generation. Alle sogenannten Arier aus dieser Abschlussklasse sind Angehörige der NSDAP oder einer ihrer Unterorganisationen. Alle deutschen Juden aus dieser Abschlussklasse werden von ihren ehemaligen Mitschülern verfolgt und bangen um ihr Leben.
Während der ehemalige Schüler Lothar Nerger bei der SA und dem antijüdischem Terror mitmischt, flieht Walter Benjamin im März 1933 verängstigt nach Paris. Sein Fluchtversuch im Jahr 1940 über Spanien in die USA zu emigrieren, scheitert. Die Angst vor der Gestapo treibt ihn in den Selbstmord.
Hier geht es nicht um deutschen Nationalismus. Hier geht es um tausendfachen kaltblütigen Mord von Deutschen an Deutsche. Zu den Mördern zählen genauso ehemalige Mitschüler der Kaiser-Friedrich-Schule wie Bruno Tesch, Geschäftsführer der Degesch, einer Tochtergesellschaft der Degussa, der an Auschwitz-Birkenau das Mordmittel Zyklon B geliefert hat.
Das Klassenbild von 1912 ist ein Bild mit tiefen schattigen Spuren. Aufgrund der unheilbar schwersten Verwundungen ist keiner der deutsch-jüdischen Überlebenden der Abschlussklasse von 1912 bereit, jemals wieder deutschen Boden zu betreten. Einzig Alfred Theodor Brauer kehrt anlässlich einer Rede zur 150-Jahrfeier der Humboldt- Universität noch einmal nach Berlin zurück. Welche Gefühle mögen ihn bei dem Gedanken an den Exitus befallen haben?
Exitus! Schluss! Ende! Sie haben alles verloren. Nicht nur ihren Wohlstand, sondern ihre Heimat und vor allem ihre Angehörigen und Freunde. Den Überlebenden der Schoah bleibt die Trauer um die Toten und den mit Persilscheinen gewaschenen „reinen“ Deutschen bleibt das Totschweigen.
Kein Zweifel, dass die Täter sich auf dem Schauplatz Nachkriegsdeutschland wieder gekonnt in Szene setzen, dass sie mit Freisprüchen und Rehabilitation wieder andocken. Die Opfer? Wenn überhaupt, auf einen Nebenschauplatz geschleudert.
Momme Brodersen macht mit dieser Momentaufnahme der 22 Abiturienten von 1912 deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts erst richtig greifbar.
Es ist ein lebendiger und ergreifender Blick in die Sozialbiografien von Walter Benjamin und seinen ehemaligen Mitschülern.
Dem Autor gelingt es auf eine kunstvolle Art den Leser mittendrin zu platzieren. Denn die historischen Zusammenhänge sind keine Abstraktion von Daten und Fakten. Sie werden vielmehr personifiziert und erhalten ein menschliches Gesicht. Und dieses Gesicht zeigt ein Klassenbild einer vermeintlich gemeinsamen Klasse, durch das sich ein hässlicher antisemitischer Riss zieht, der die soziale Spaltung deutsch-jüdischer Geschichte sichtbar macht.
Momme Brodersen, Klassenbild mit Walter Benjamin, Eine Spurensuche, Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 240 Seiten, mit zahlr. Abb., 2012 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, ISBN: 978-3-88680-943-1, € 19,99 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,50* (* empf. VK-Preis)
© Soraya Levin