„Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist noch nicht einmal vergangen“. Mit diesem Zitat von William Faulkner leitet Thomas Nowotny seine biografische Spurensuche ein. Er ist einer von den dreißig Autoren, die sich in „Beidseits von Auschwitz. Identitäten in Deutschland nach 1945“ auf die Suche nach sich selbst begeben und dabei tief in das Familiengedächtnis eintauchen.

Es ist die Frage nach dem Selbstbild, nach der Verinnerlichung des soziokulturellen Erbes durch den Erfahrungsprozess der Shoah und der Nazizeit, der die zwischen 1929 und 1987 geborenen Autoren nachgehen. Zu Wort kommen Juden und Nichtjuden aus diversen Herkunftsorten wie Polen, Rumänien, Schweiz, Österreich, Israel, Deutschland West und Ost, die ihre in die jeweiligen politischen Strukturen eingebetteten gesellschaftlichen Erfahrungen schildern.

Die gegenübergestellten Sozialisationserlebnisse entblößen die inneren und äußeren Identitätskonflikte.

Eine gemeinsame Erfahrungsschnittmenge ist das SCHWEIGEN. Während die zweite Holocaustgeneration geprägt ist durch das anhaltende stumme Entsetzen der Eltern, sind die Kinder der Täter geprägt durch das Totschweigen der verbrecherischen Taten.
Für manch einen wird dieses Totschweigen zum Betrug an der gemeinsamen Lebenswelt mit den Eltern. Diese schonungslose Konfrontation mit der Lebenslüge und dem nun sichtbaren verbrecherischen Erbe führt mitunter zur Entwicklung von diametralen Lebenswegen gegenüber der Elterngeneration. Es geht um Schuld und Ängste. Es taucht die Frage auf, was haben diese Eltern transgenerationell von ihrem Antisemitismus weitergegeben und wie viel davon ist nun ein Baustein der eigenen Identität.

Gerade wenn es um den Nachlass geht, wird dieser Baustein sichtbar. Welche Spuren jüdischen Vermögens haben die Täter ihren Kindern hinterlassen? Ein Vermögen, das durch die Arisierung, erzwungene Notverkäufe und Versteigerungen der Hinterlassenschaften der Deportierten in den Besitz der Täter übergegangen ist. Es sind diese geraubten materiellen Werte, die durch die Generationenfolge innerhalb der Familien ein transgenerationelles Kontinuum der Täter schaffen.

Täter, die ihre Täterschaft verschweigen oder sie leugnen. Nach Müller-Hohagen bleiben aber die Eltern immer NS-behaftet, da nicht der einzelne der Nazitäter gewesen ist, sondern die Mehrheitsgesellschaft durch aktives oder passives Tun. Wie gelingt es der Folgegeneration sich von dieser NS-Behaftung zu befreien? Im Extremfall ist ein radikaler Bruch zur Herkunftsfamilie zu vollziehen. Ein weiterer Weg ist die Annahme dieser ererbten Schuld und die Aufklärung darüber. Manche Kinder der Täter gehen an die Orte des Verbrechens. Sie besuchen Auschwitz, veröffentlichen die mörderischen Taten ihrer Verwandten, interessieren sich für die jüdische Kultur, reisen nach Israel, haben jüdische Freunde oder treten gar zum Judentum über. Die umgebende Mehrheitsgesellschaft reagiert teilweise offen feindselig, spielt die Verbrechen herunter, spricht vom Schlussstrich.

Diejenigen, die sich intensiv mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetzen, sehen das in der Gesellschaft verankerte postnazistische Erbe. Da schwelgen die einen in Erinnerungen an den Jungmädelbund. Da klingt der Krieg an der Ostfront wie ein spannendes Abenteuererlebnis. Da steht die alte Naziliteratur im Schrank. Da singt die Oma „...wir schlitzen den Juden die Bäuche auf“. Da steht der alte von den Juden geraubte Erbschrank im Raum. Da wird „DAS“ mit den Juden zwar eingestanden aber ... Da ist sie wieder, die so wichtige und herbeizitierte Autobahn von Adolf Hitler. Da wird in der Schule einfach das Thema Nazizeit und Holocaust ausgespart. Da werden in der Schule Sprüche gemacht wie „Wir haben gelacht, bis zur Vergasung“ oder „ich hab Hunger, mir ist kalt, ich will zurück nach Buchenwald“. Da werden in Schulbüchern Hakenkreuze gemalt und nebenbei zieren diese das Geschirr in einer christlichen Einrichtung für geistig behinderte Menschen. Da werden bei der Bundeswehr die Gasmaskenübungen in der „Villa Eichmann“ geübt. Da wird in der DDR ein realsozialistischer Antizionismus betrieben. Da wird geraubtes Vermögen nicht restituiert. Da werden im Ostblock wieder Juden verfolgt und müssen ihr Leben retten und fliehen. Da geht die Olympiade 1972 trotz des Attentats auf die israelische Mannschaft und 11 toter Geiseln weiter. Da selektieren bei der Flugzeugentführung nach Entebbe wieder Deutsche Juden. Da ist sie wieder, die Schändung jüdischer Friedhöfe. Da findet es die Folgegeneration ganz normal, dass jüdische Einrichtungen ständig bewacht werden müssen. Da wird der Folgegeneration vermittelt „Ihr seid nicht schuldig“. Da besucht die Kanzlerin das ehemalige KZ Dachau und gleich darauf pietätlos ein Bierzelt. Da wird der israelische Umgang mit den Palästinensern mit dem Holocaust gleichgesetzt. Da werden wieder judenfreie Gebiete gefordert. Da werden die Verstrickungen der eigenen Familie verengt auf Legenden wie „sie konnten nicht anders“ oder „sie hätten nichts bemerkt“. Legenden, die durch Beispiele der Widerständigen, durch Archivdaten und durch Literaturen wie die der Tagebücher von August Friedrich Kellner längst enttarnt sind.

Es ist das moralische Entlastungsverlangen der Täter und der Folgegenerationen, die diesen absoluten, kaum zu beschreibenden Zivilisationsbruch, diesen „bodenlosen Schlund der Hölle“ Auschwitz wie es Halina Birenbaum schreibt, ausblenden. Halina Birenbaum ist dort gewesen, mit ihr „das Erschrecken! ... in dieser unvorstellbaren Inkarnation der Hölle, ... Unzählige Male starb ich, erstarb aus Angst, Schmerz, Anspannung der Selektion wegen, beim Anblick der Qualen und des Sterbens anderer Gefangener.“.
Unzählige Male wiederholen sich für die Opfer diese Schreckensbilder. Sie enden nie. Sie sind immer präsent und ersticken jedes Wort darüber. Ein Leben ist nur möglich, in dem die Opfer versuchen, diesen Schmerz, dieses ohnmächtige Gefühl, diese Scham zu verdrängen. Diese durch die entmenschte Barbarei hervorgerufenen emotionalen Krater sind derartig tief, dass sie sich nicht überwinden lassen und sich intertransgenerationell fortsetzen. Der Psychologe Natan Kellermann beschreibt diese emotionale generationenübergreifende Durchdringung mit dem Wirkmechanismus einer Atombombenexplosion. So wie die Atomwolke und die Strahlungsintensität über das Explosionszentrum hinausgeht, so sagt das Kind der zweiten Holocaustgeneration „Das wichtigste Ereignis meines Lebens fand statt, bevor ich geboren wurde“.

Die Kinder der Holocaustüberlebenden fühlen sich wie „...Gedenkkerzen. Wir sind die, die nie über sich selbst sprechen konnten, weil wir immerzu damit beschäftigt waren, unsere Eltern zu beschützen.“. Eltern, die im stummen Schmerz weinen, die nachts schreien, die gereizt und ängstlich sind, die nur ihre Kinder beschützen wollen und selbst so schutzbedürftig sind. Eltern, deren eintätowierte Nummern das Unfassbare sichtbar machen, die vor Angst von ihren Kindern Stärke verlangen, die ihr Judentum verbergen, deren rettende Insel Israel ist. Eltern, die ihre Toten wieder haben wollen und ihre Kinder nach ihren ermordeten Angehörigen benennen. Doch diese können die Familienkontinuität nicht wieder herstellen. Eltern, die ihre Kinder emotional von ihrem Leiden ausgrenzen. Kinder, die spüren, dass sie anders sind. Deren Familien oft ohne Großeltern sind. Kinder, mit denen andere nicht spielen wollen, weil sie jüdisch sind. Kinder, die ihr Judentum nach außen verheimlichen müssen. Kinder, von denen die Täterkinder Entlastung fordern.

Mit „Beidseits von Auschwitz. Identitäten in Deutschland nach 1945“ machen die Herausgeber Nea Weissberg, selbst ein Kind von Holocaustüberlebenden und Jürgen Müller-Hohagen deutlich, dass für die zweite und dritte Holocaustgeneration sowie für die Kriegs-, Nachkriegs- und Enkelgeneration der Täter der identitätsbildende Prozess auf der einen Seite durch das Extremtrauma und auf der anderen Seite durch die Schuld gesteuert wird. Die tradierten Werte und Muster werden transgenerationell mit dem kulturellen Gedächtnis weiter transportiert. Die Vergangenheit wird durch diese Transmission bei den Folgegenerationen verfestigt. Es zeigt sich, dass der Holocaust damit weiterhin Bestandteil der Gegenwart ist und damit prägend auch für die folgenden Identitäten. Der Bundespräsident Joachim Gauck hat dieses Kontinuum in seiner Gedenkrede zur siebzigjährigen Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz treffend formuliert: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“.

Die dreißig Lebensgeschichten verdeutlichen, wie wichtig es ist, sich seiner eigenen Identität bewusst zu sein. Dazu gehört es, sich zu erinnern und die Erinnerung nicht wie in Babij Jar einzuäschern. Die Schlussstrichdebatte ist daher ad absurdum geführt, da sie die eigene Identität abwehrt und verleugnet.

Dieses Buch ist auf jeden Fall eines der Bücher, das für den kritischen Diskurs unserer eigenen Geschichte und unseres postnazistischen Erbes notwendig ist und den Blick auf Israel aus einer anderen Perspektive, nämlich die der Opfer, richtet.

Nea Weissberg, Jürgen Müller-Hohagen (Hg.), Beidseits von Auschwitz. Identitäten in Deutschland nach 1945. Lichtig-Verlag, Berlin 2015, 346 Seiten, ISBN: 978-3-929905-34-2, EUR 21,50

© Soraya Levin