Hier erzählt kein Moralist, hier erzählt einfach nur ein Mensch gegen das Vergessen der vom Menschen inszenierten Hölle. Sein Kassandraruf vor der Entmenschlichung darf nicht ungehört bleiben.

Babij Jar, die Weiberschlucht. Nein, diese Schlucht ist kein Naturwunder, diese Schlucht verheißt nichts Gutes. Hier blüht nichts, hier blüht nur der Tod. Statt einzigartiger Naturphänomene, ein einzigartig grausames Massaker an den Juden Kiews.

Leichen flankieren Schicht um Schicht die steinigen Wände der Schlucht. Eine bizarre Fracht aus grauem Leichenstaub, die der Bach dort transportiert. Eine mehr als 70 Jahre alte Hinterlassenschaft der Nazis, die sich nicht einfach wegspülen lässt.

Diese Hinterlassenschaft ist die Geschichte der Kindheit von Anatolij Kusnezow.

Sie ist nicht leicht zu erzählen, denn sie wiegt so schwer, dass sie den Autor zeit seines Lebens als Ballast begleitet hat. Und gerade wegen ihrer Qual, die jeden von uns treffen kann, ist es ein MUSS, sie zu erzählen.

Als Anatolij Kusnezow 1929 in Kiew geboren wird, ist die Ukraine längst im Einflussbereich der Sowjetunion. Nicht nur die Zwangskollektivierung fordert Tausende von Hungertoten. Andersdenkende werden brutal unterdrückt und als Volksfeinde ausgelöscht. Der stalinistische Terror wirkt in jede noch so alltägliche Familie hinein, auch in Anatolijs. Der Großvater, zwangsenteignet von seinem Stück Land, hasst alles Russische. Der russische Vater, ein überzeugter Kommunist. Die ukrainische Mutter, aufgestiegen zur Lehrerin. Die trotz Kommunismus gläubige Großmutter. Was der Vater für die höchste Entfaltung hält, präsentiert sich als gnadenlose Bevormundung, die bis zur Selbstzensur des Wortes und zur Bücherverbrennung führt. Selbst Anatolijs Märchen sind kapitalismusverdächtig.

Mit der Flucht der Roten Armee und dem Einzug der Deutschen Truppen im September 1941 in Kiew bricht nicht nur eine andere Zeit mit einer neuen Bevormundung über die Bevölkerung herein, sondern eine ungebremste Barbarei.

Während Ukrainer wie Anatolijs Großvater die Deutschen als Befreier der kommunistischen Unterdrückung feiern und viele Juden sie für „kultivierte und anständige Leute“ halten, riecht keiner den starken Geruch des Todes, der sich durch Kiews Straßen zieht.

Propagandaplakate legitimieren das beabsichtigte Verbrechen. „Die Juden, Polen und Moskowiter sind die ärgsten Feinde der Ukraine!“ Für das Kind Anatolij ist diese Propaganda befremdlich. Ist er gemeint? Ist er als halber Moskowiter der Feind? Und seine besten Freunde, ein Pole und ein Jude, Feinde?

Die Agitation reicht bis zum Kulturappell. „Unsere Aufgabe ist es, die von den Judisch- Bolschewiken zerstörte ukrainische Nationalkultur wieder aufzubauen“. Die deutschen Werkzeuge für den Kulturaufbau heißen Folter und Massenexekutionen.

Zur Verschleierung ihres Ausrottungsplans rufen die Deutschen die jüdische Bevölkerung Kiews zur Evakuierung auf.

Als wär es die normalste Angelegenheit der Welt, steht die Bevölkerung Kiews dabei wie eine gedrängte Masse, vom Greis bis zum Säugling, ahnungslos in den Tod getrieben wird. Skrupellos und ohne jede Moral beschimpfen Ukrainer ihre jüdischen Nachbarn und berauben sie ihrer letzten Habseligkeiten.

Doch noch sind nicht alle Hemmungen gefallen. Das kommt erst jetzt auf dem Weg nach Babij Jar. Ihrer Kleidung entledigt, müssen die Juden ein Spalier aus mit Knüppeln bewaffneter deutscher Soldaten überwinden. Knüppel um Knüppel auf die hilflosen nackten Körper. Die Lust zum zermalmen von Knochen ist groß. Und die Gier zum Töten wächst mit jedem kläglichen Schrei, mit jedem Bersten der Knochen, mit jedem Spritzer Blut. Jetzt weiter bis zur Grube und ein Schuß ins Genick. Körper auf Körper stürzen in die Grube. Jetzt Sand drauf und die nächste Schicht. Das ist deutsche Kultur. Da rührt sich noch ein Körper, da atmet noch jemand, ein Mensch. Die Soldaten springen in die Mördergrube. Trampeln auf den noch warmen Körpern herum, entladen ihre Gewehre in kalter Tötungslust. Da ein Säugling, dort eine geschändete Frau, beide lebendig begraben.

In nur zwei Tagen, am 29. und 30. September 1941, werden 33771 Juden kaltblütig hingerichtet.

Noch ist die Rote Armee weit weg, das Morden in Babij Jar geht weiter. Der letzte Jude wird denunziert und die Gier lechzt unaufhaltsam nach Toten. Die deutsche Kultur bedient sich immer weiterer Tötungsinstrumente wie Vergasungswagen und immer weiterer Opfer über Zigeuner, Partisanen bis zu allen möglichen Volksfeinden. Jeder kann jetzt ein Volksfeind sein.

Im Lager über Babij Jar wird hemmungslos gefoltert, verhungern die Gefangenen und aus Kiew transportieren sie Arbeitskräfte, selbst Kinder, ins Deutsche Reich.

Mit dem Vorrücken der Roten Armee beginnen die Deutschen am 18.08.1943 die Zeugnisse ihrer Barbarei zu vernichten. Die stummen Überreste der Niedergemetzelten werden ausgegraben, aus den Mündern das Gold geschürft und die leblosen Körper verbrannt. In Kiew riecht es tagelang nach gegrilltem Fleisch, Menschenfleisch.

„Babij Jar ist das wahre Symbol eurer Kultur und Humanismen“. Wenn das die Entfaltung des humanistischen Menschen ist, dann hat Anatolij Kusnezow recht, wenn er den Glauben an die Menschlichkeit verloren hat und sagt, „Auf der Erde gibt es keine Menschlichkeit.“, niemand ist vor der Entmenschlichung seiner selbst und anderer sicher. „Welche neuen Babij Jars, Maidaneks, Hiroshimas, Kolymas und Potmas, an welchen Orten und in welchen neuen technischen Formen, liegen noch im Verborgenen und warten auf ihre Stunde? Und wer von uns Lebenden ist vielleicht bereits ihr Kandidat?“ Bin ich, der Leser, es vielleicht selbst? Vielleicht schon morgen? Bin ich dann ein Opfer, ein Zeuge oder gar ein Mittäter? Anatolij Kusnezow weist auf unsere Verantwortung als Menschen hin. Eine Verantwortung, die sich wie ein breiiger Strom durch die Geschichte zieht.

Der Gedankenstrom, wir könnten als Leser in Kiew an seiner statt geboren sein und er wäre jetzt der Leser, macht dieses deutlich.

Babij Jar, Schlucht des Leidens ist der Versuch ein Zeichen gegen das Vergessen zu setzen. „Wir haben kein Recht, diesen Schrei zu vergessen: Er ist nicht Geschichte geworden. Er ist unser Heute“.

Niemand will aber die Erinnerung an die Stunden der Mörder wachhalten, niemand will eine Katharsis durchleben. Sich erinnern? Wenn überhaupt, nur an die russischen Opfer, nicht an die Juden.
Die Schlucht ist verschwunden, jetzt ist hier ein Park. Wo ist die markante Gedenkstätte? Der Dichter Jewgenij Jewtuschenko drückt dieses in seinem Gedicht Babij Jar mit folgenden Worten aus: „Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal. Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein. Mir ist angst. Ich bin alt heute, so alt wie das jüdische Volk. Ich glaube, ich bin jetzt ein Jude.“ In dem Gedicht sind die Opfer vereint, sie sind Menschen, ob Jude oder Russe. Es ist nicht leicht gewesen, dieses Denkmal der Wörter zu setzen. Auch nicht leicht für Anatolij Kusnezow. Die sowjetische Zensur streicht 1965 etliche Passagen, so dass sein Zeitdokument völlig entfremdet und sinnentstellt gegen seinen Willen veröffentlich wird. Erst im Exil gelingt es, sein Buch vollständig der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Anatolij Kusnezows Erinnerungen konfrontieren uns nicht nur mit einer schauderhaften Vergangenheit, sondern sie zeigen, wie fragil unser Leben in scheinbar friedlichen Zeiten ist. Der Mensch bedroht den Menschen, der Mensch tötet den Menschen, über Stalin bis Hitler. Kusnezows Kindheit hat alles zu bieten, Terror, Antisemitismus, Neid, Hass, Denunziantentum, Mitläufer, Selbstzensur, Vernichtung der Wörter, grenzenlosen Hunger, den Gulag, KZs, Lust zu töten, das Glück zu überleben und die schwere Last der Vergangenheit.

Da gehen sie mir gar nicht mehr aus dem Sinn, die Zeilen von Jewgenij Jewtuschenko und die Worte „Mir ist angst.“ Auch mir ist angst, denn die Quelle jedweder Entmenschlichung ist der Mensch. Wenn er moralisch sinkt, gibt es keinen Halt. Er, der selbstverantwortliche Mensch, schafft sich immer neuere Gewaltspielplätze. Sein Spielzeug ist eine schäbige Ethik und Moral, die „den Anderen“ im Blut ertrinken lässt.

Anatolij Kusnezow, Babij Jar, Die Schlucht des Leids, Roman-Dokument, Aus dem Russischen von Irina Nowak, Mit einem Nachwort von Benjamin Korn, 480 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, Matthes & Seits Verlag GmbH, München 2001, ISBN 978-3-88221- 295-2, 24,80 / CHF 44,00

© Soraya Levin