Die beiden deutschen Freunde, der Jude Max Eisenstein und Martin Schulse betreiben in San Francisco eine Kunstgalerie. Martin verlässt 1932 mit seiner Familie die USA und kehrt nach Deutschland zurück. Mit seiner Abreise entfaltet sich ein aufwühlender Briefverkehr zwischen den Freunden, der zeigt, wie sich ihre Beziehung mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus verändert und an der zunehmenden Radikalität Martins am Ende zerbricht. Deutlich erkennbar ist dieser Bruch an den sich wandelnden Grußformeln in den Briefen. Am Anfang ist ein Ton ihrer unzerbrechlichen Freundschaft zu erkennen, der mit der kochenden antisemitischen Volksseele und dem Aufstieg Adolf Hitlers bei Martin in eine hundsgemeine Boshaftigkeit umschlägt.
Die zwischen November 1932 bis März 1934 geschriebenen Briefe geben einen Einblick in die gesellschaftspolitischen Verhältnisse und in die Gedankenwelt von Max und Martin. Sie demonstrieren, dass es nicht viel bedarf, um die liberale Einstellung gegen eine radikale und menschenverachtende Haltung einzutauschen.
Zu Beginn ihres Briefwechsels bringt Max der neuen Weimarer Republik Bewunderung entgegen, während Martin von seinem großzügigen Haus und weiteren Annehmlichkeiten schwärmt, die er günstig erstanden hat. Erste Anzeichen für einen Sinneswandel kommen bei Martin zum Vorschein. Im Jahr 1932 wächst der wirtschaftliche Druck auf die jüdische Bevölkerung, sodass viele gezwungen sind, ihren Besitz unter Wert abzugeben. Martin ergreift offensichtlich die Gelegenheit, von der Not der Juden zu profitieren. Diesem Profit opfert er seine Moral. Eine latente Zustimmung zum Antisemitismus ist in seinen Worten zu erkennen.
Diese Sicht ist gestützt durch Martins Bewunderung für Hindenburg, den er als liberal bezeichnet. Eine befremdliche Charakterisierung, die den Wandel in Martins politischer Auffassung verdeutlicht. Indem er den reaktionären Hindenburg, der zur Schwächung der Weimarer Republik beiträgt und als Steigbügelhalter für den Aufstieg der antidemokratischen Kräfte fungiert, als freiheitlich beschreibt, deutet er den Begriff des Liberalismus um. Mit dieser Neubesetzung des Wortes signalisiert er, dass er sich von einer liberalen zu einer rechten Weltanschauung gewandelt hat. Symbolisch verdeutlicht sich seine verändernde politische Einstellung am Wechsel des Briefkopfes von Schloss-Rantzenburg zu Deutsch-Völkische Bank.
Martins Haltung gegenüber Max entwickelt sich zunehmend feindseliger. Seine anfänglichen Vorbehalte gegen die antijüdische Hetze und die Gewalt der SA verschwinden, je mehr Martin sich mit dem neuen Regime identifiziert. Mit der Verschmelzung seiner Identität mit der kollektiven Gesinnung des Nationalsozialismus löst er sich endgültig von liberalen Werten und lässt sich von antisemitischen Ansichten leiten. Max’ jüdische Identität stellt fortan ein unüberwindbares Hindernis für ihre Freundschaft dar, denn in Martins Augen ist Max als Jude für ihn ein Teil des Problems. Indem er das Leiden der Juden als Notwendigkeit zum Wohle des deutschen Volkes betrachtet, ist er der Ideologie komplett verfallen.
Martin, inzwischen Parteimitglied, behauptet in seinen Briefen, dass den Juden jeglicher Mut fehlt und sie nicht in der Lage seien, sich gegen die nationalsozialistische Verfolgung zu wehren. Juden sind für ihn »Sündenböcke«. Er äußert die antisemitische Überzeugung, dass die jüdische Rasse angeblich eine Bedrohung für die Nation sei. Er behauptet, ihre Verfolgung sei für die Ziele Deutschlands unerlässlich. Diese Sichtweise offenbart, dass er Juden als passive Opfer sieht, die nicht in der Lage oder bereit sind, sich zu wehren.
Dies spiegelt eine antisemitische Sicht wider, die abgrundtief in der nationalsozialistischen Ideologie verwurzelt ist.
Während Martin seine Menschlichkeit verloren hat, versucht Max, einen letzten Rest von der einstigen Freundschaft zu finden, als seine Schwester Griselle ein Theaterengagement in Berlin erhält. Er bittet seinen Freund, sich um Griselle, die einst Martins Geliebte war, zu kümmern. In einem weiteren Schreiben drückt er seine Verzweiflung aus, als ein Brief an Griselle mit dem Stempel »Adressat unbekannt« an ihn zurückkommt. In seiner Hilflosigkeit fleht er Martin an, Griselle, deren Leben an einem seidenen Faden hängt, zu helfen. Der Tiefpunkt ihrer Entfremdung ist mit Martins Brief vom 8. Dezember 1933 erreicht. Sein emotionsloser Bericht über die Ermordung Griselles durch die SA in seinem Park ist eine moralische Bankrotterklärung der Menschlichkeit.
Der Zusammenbruch seiner humanen Werte zeigt sich in seiner Täter-Opfer-Umkehr. Er sieht sich als jemand, der gezwungen ist, sich anzupassen, um zu überleben, und rückt damit die Täterrolle der Nationalsozialisten in den Hintergrund.
Er zeigt kein Mitgefühl für das Leid, das Griselle und anderen Juden widerfährt, sondern konzentriert sich stattdessen darauf, wie sich die Umstände auf sein persönliches Leben auswirken. Dies verstärkt die Schuldumkehr, da er die Opferrolle von Griselle und anderen Juden negiert und stattdessen seine eigene Ohnmacht betont. Besonders verdeutlicht es seine Komplizenschaft mit dem Nazi-Regime.
Max ist kampfbereit. Die Briefe, die er ab sofort an Martin schreibt, sind ein schweres Wortgeschütz. Max versucht das moralische Gleichgewicht wiederherzustellen, indem er, beginnend mit einem Telegramm und in weiteren Briefen, einen vermeintlichen Kunsthandel mit entarteter Kunst und eine intime Freundschaft zwischen Martin und den Juden suggeriert.
Martin baut eine Fassade der Versöhnung auf, um Max zu stoppen. Verdeutlicht ist diese vermeintlich hergestellte Freundschaft an dem wechselnden Briefkopf, der wieder Schloss-Rantzenburg lautet und an der Anrede »Max, mein alter Freund«. Ebenso stellt er Max die Frage, wie er als langjähriger Freund derartig handeln kann, dass er ihn in Gefahr bringe. Er äußert seine Besorgnis über die Folgen und bittet Max eindringlich, Mitgefühl zu zeigen und den Briefwechsel zu beenden.
Der letzte Brief von Max stammt vom 3. März 1934. Am 18. März 1934 erhält Max den Brief mit dem Vermerk »Adressat unbekannt« zurück. Dieser Zusatz symbolisiert die endgültige Trennung der beiden.
Für mich als Leserin ist dieser Vermerk am Ende Balsam für die Seele.
Kressmann Taylors gesellschaftskritischer Briefroman wird erstmals 1938 in der September/Oktober-Ausgabe des New Yorker Magazins Story veröffentlicht. Sie sorgte sofort für enormes Aufsehen.
Im Nachwort verweist Lois Rosenthal, Herausgeberin des New Yorker Magazins Story, auf eine Rezension in der New York Times Book Review, in der es heißt: »Diese moderne Geschichte ist die Perfektion selbst. Sie ist die stärkste Anklage gegen den Nationalsozialismus, die man sich in der Literatur vorstellen kann.«
Aufgrund der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit in einer beachtlichen Zahl von Ländern veröffentlichte das Magazin Story die Geschichte in der Sommerausgabe 1992 erneut. Diese zeitlose und an unsere Moral appellierende Geschichte gehört laut Rosenthal in jedes Bücherregal.
Heute, angesichts des alarmierenden Anstiegs des Antisemitismus nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023, gehört »Adressat unbekannt« ohne Frage in jedes Bücherregal.
Ebenso sieht es Elke Heidenreich. Sie wünscht sich die Lektüre in die Bildungsstätten und an die Zeitungsleser. Sie träumt davon, dass sich morgens in den übervollen U-Bahnen Menschen gegenübersitzen, die Taylors Werk lesen, sich anblicken und sich ein »Nie wieder« versprechen.
Das »Nie wieder!« ist Makulatur, denn seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 zeigt sich, dass der Judenhass weltweit wächst und sich gewaltsam und lautstark öffentlich äußert. Der Aufruf zur Judenjagd nach dem Fußballspiel zwischen Ajax Amsterdam und Maccabi Tel Aviv am 11. November 2024 in Amsterdam war mehr als ein Warnsignal. Das Nation-League-Duell zwischen Frankreich und Israel am 14. November 2024 galt als antisemitische Drohkulisse, der der Staat mit einem überproportionalen Polizeiaufgebot begegnete. Ein scheinbares Bollwerk gegen Antisemitismus, von links, von rechts, aus der Mitte und von Muslimen, aber mitnichten ein Widerstand gegen Antisemitismus. Wir sind nicht wehrhaft, uns fehlt der Mut und die Entschlossenheit, konsequent und mit Härte gegen Antisemitismus vorzugehen, weil auch im 21. Jahrhundert der politische und der gesellschaftliche Wille fehlt.
»Adressat unbekannt« von Kressmann Taylor ist mehr wie ein üblicher Briefroman. Meisterhaft ist der ewige Wettlauf gegen den Judenhass veranschaulicht. Angesichts der aktuellen antijüdischen Pogrome ist der Roman von beklemmender Aktualität. Was wir heute, im 21. Jahrhundert, sehen und erleben, ist sichtbarer und sich austobender Antisemitismus.
Mit Ignoranz und Lippenbekenntnissen zum »Nie wieder« stoppen wir diesen hartnäckigen, sich durch alle Zeitläufe ziehenden Judenhass nicht. Unser Kampf gegen Antisemitismus fängt bei den Kindern an. Diese Geschichte gehört folglich ab sofort in die Lehrpläne der Schulen.
Kressmann Taylor, Adressat unbekannt. Mit einem Nachwort von Elke Heidenreich, 17. Auflage 2011, Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg, 64 Seiten, ISBN 978-3-499-23093-6
© Soraya Levin
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