Und im Wiener Wald stehen noch immer die Bäume. Ein jüdisches Schicksal in Schweden

Wer verbindet nicht mit Wien die Kaiserin Sissi, Wiener Melange und Sachertorte und natürlich das Naherholungsgebiet der Wiener Bürger, den Wienerwald. Auch für die Ullmanns, Josef, Elise und ihr am 20.07.1925 geborener Sohn Otto, ein beliebtes sonntägliches Ausflugsziel mit Picknick und Entspannung. Ist vom Wald zu der Zeit jede Bedrohung fern gehalten, so kann sich hingegen die religiöse Diskriminierung ungehindert entladen. Mit dem Anschluss Österreichs im März 1938 an das Dritte Reich brechen sie wieder aus, die religiösen Stigmata und das tief verwurzelte Gedankengut des Antisemitismus gräbt sich aus. Von einem Tag zum anderen beginnt sich das unberührte Leben der Ullmanns bedrohlich zu verändern. Josef Ullmann ist nun nicht mehr Sportjournalist beim Wiener Tag. Grund: Jude. Für die Ullmanns gibt es keine Einkommensquelle und kein sonntägliches Essen mit Buttercremerolle mehr. Grund: Jude. Vom Opernhaus bis zum Fußballstadion. Sie dürfen beides nicht mehr betreten. Grund: Jude.

Am 10. November 1938 feiern die Ullmanns nicht Elises siebenundvierzigsten Geburtstag. Es ist keine Festtagsstimmung, es ist Pogromstimmung. Zigtausende der jüdischen Sündenböcke nebst ihrem Hab und Gut werden niedergeknüppelt, kaltgemacht oder ins KZ verschleppt.

Nach diesen Exzessen in der Reichspogromnacht geben sich die Ullmanns keiner Illusion mehr hin. Josef versucht Affidavits für die Familie zu bekommen. Die Auswanderung scheitert, da die Grenzen weitgehend geschlossen sind. Ein Jude kommt fast nirgends hinein. Die Konferenz von Evian im Juli 1938 ist eine humane Bankrotterklärung der dort versammelten 32 internationalen Staaten. Die möglichen Zufluchtsländer betreiben eine erbärmliche jüdische Flüchtlingspolitik. Gehen sie schon nicht gemeinsam gegen das skrupellose Hitlerreich vor, so sollten sie sich zumindest geschlossen zeigen, was die Aufnahme der jüdischen Flüchtlinge betrifft. Nur an einer Stelle arbeiten sie zusammen. Sie verschließen ihre Grenzen vor den jüdischen Flüchtlingen und ermuntern damit das gewissenlose Nazideutschland seine Vernichtungspolitik weiter zu betreiben.

Auch die unter dem Deckmantel der Neutralität agierenden Länder wie Schweden halten ihre Türen dicht. Die schwedische Flüchtlingspolitik geht bis zur Forderung einer Kennzeichnung jüdischer Pässe und führt einen Visumzwang für Nichtarier ein, das heißt für Juden. Nicht dass es in Schweden eine starke nationalsozialistische Partei gibt. Die Grenzhindernisse setzt die breite Masse. Bizarre Überfremdungsängste gepaart mit einer judenfeindlichen Konkurrenzstimmung und antisemitischen Ressentiments sowie eine falsch betriebene Appeasementpolitik haben das Flüchtlingsparadigma zu verantworten.

Dennoch gelingt es den Ullmanns ihren dreizehnjährigen Sohn Otto nach Schweden zu bringen. Am 1. Februar 1939 heißt es Abschied nehmen. Ein Abschied, initiiert von der schwedischen Israelmission und deren Direktor Birger Pernow, dessen Ziel es ist, 100 jüdische Kinder zwischen sieben und fünfzehn Jahren zu retten. Die Rettung ist jedoch „nicht so sehr vor dem Nationalsozialismus, sondern vielmehr vor ihrem Judentum, nicht so sehr zum Leben, sondern vielmehr zum Christentum.“ hin erfolgt. Der Missionsgedanke steht für Birger Pernow, der einen christlichen Antijudaismus vertritt, im Vordergrund. Die Kinder, von ihm als „Elemente“ bezeichnet, werden vor der Abreise nach Schweden zwangsgetauft und bleiben dennoch Judenchristen. Für die christliche Kirche bleibt ein Jude ein Jude und so trägt ihr Pass trotz der Taufe das Wort mosaisch.

Die neuen Judenchristen werden in Heime und Pflegefamilien untergebracht. Für Otto beginnt eine schwere Zeit in Helmhold. Statt die Schulbank zu drücken, knechtet er auf dem Feld. In dieser Zeit beginnt der Briefwechsel mit seinen Eltern. Obwohl sie ihm jeden Tag schreiben, ihm aufmunternde Worte zusprechen, in dem sie ihn als „Kolonialisten“ bezeichnen, ihm die Vorzüge der Freiheit in der Fremde aufzeigen, ihm sagen, wie einsam es ohne ihn ist und dass sie ihn lieben, ihn mit „mein innigster geliebter Bub“ und „Liebes Schnuckilein“ anreden, die Briefe mit Grüßen und Küssen von „Dein Papa und Deine Mutti“ enden lassen, nagt an Otto ein unerträgliches Heimweh. Der Vater spricht vom „aushalten“. Beide Seiten müssen „ES“ aushalten. Otto die gefühllos berechnende Fremde und die Eltern die unbarmherzigen Gräuel in der Heimat, die ihnen den Alltag genommen haben. Alltäglichkeiten sind es, die sie von Otto hören möchten. Sie selbst sind Otto gegenüber in ihren Briefen recht einsilbig, was ihre zunehmende Entrechtung und ihr Leiden betrifft. Der Vater benutzt Worte wie „rauskommen“ und „von dort draußen“. „Rauskommen“ aus dem Gefängnis der Nazidiktatur, „von dort draußen“ aus Schweden eine Nachricht bekommen. Sie warten auf die Antworten ihres einzigen Kindes. Antworten als einzige Hoffnung in ihrer sich zuziehenden Welt.

Während Otto von einem Hof zum nächsten und von einer Ausbildung zur nächsten wandert, zieht sich für seine Eltern die Schlinge weiter zu. Er wird zu ihrem letzten Rettungsanker. Verzweifelt bitten sie ihn um Unterstützung. Otto schreibt an Pastor Birker Pernow und ersucht Hilfe und Einreise nach Schweden für seine Eltern. Sein erfolgloses Bittgesuch bedeutet ihren Tod. Die Eltern werden Anfang Oktober 1942 als Nummer 1110 und 1111 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Sie sind nun im Transit in das Vernichtungslager Auschwitz.

Während die Nazis damit beschäftigt sind, seine Eltern zu ermorden, ist Otto auf dem Hof von Nazis in der Ausbildung. Es ist der Hof der Familie Kamprad. Mit dem Sohn „Ingvar 18 Jahre, zweifach engagierter Nazi, Sohn eines Judenhassers und Enkelsohn einer Hitlerenthusiastin.“ wird Otto eine fast zehnjährige Freundschaft verbinden. Ingvar, Leser der Nazipropagandazeitschrift „Signal“, Anhänger der schwedischen Nazis Sven Olov Lindhom und Per Engdahl und Mitglied der schwedischen Nazipartei SSS bekennt Jahre später „Ich war Nazi“. Das Schicksal der Ullmanns lässt ihn völlig unberührt. Er hält auch nach dem Krieg an dem Nazi Per Engdahl als Freund und „bester Bruder“ fest, lässt ihn als Festredner auf seiner Hochzeit sprechen und unterstützt 1951 dessen paneuropäische neue nationalsozialistische Bewegung. Ingvar Kamprad vom Hof Elmtaryd aus Agunnaryd, der mit IKEA zu einem der reichsten international agierenden Unternehmer wird, fühlt sich moralisch nicht schuldig und tut seine enttarnte braune Vergangenheit mit einem schlichten „ich habe mich geirrt“ ab.

Otto hingegen bleibt belastet mit den unausgesprochenen Ereignissen der Vergangenheit, die ihn 1946 nach Stockholm und von dort nach Palästina und wieder zurück in die Arme von Ingvar Kamprad treiben, wo er für einige Zeit Mitarbeiter des neu gegründeten Unternehmens IKEA wird.

„Wenige Jahre später suchte Otto um die schwedische Staatsbürgerschaft an. Im Antragsformular beantwortete er die Frage nach seinem Glauben mit „konfessionslos“. Ohne jeden Glauben. Er war konvertiert zu maßlosem Zorn.“

Mit seinem Tod im Jahr 2005 werden die Briefe der unausgesprochenen Vergangenheit weitergereicht. Schweden hat sich nicht als Blinder, sondern als Sehender ins Abseits gestellt. Wir mischen uns nicht ein. Nein, das stimmt nicht. Schweden hat sich eingemischt. Denn Schweden hat um die Problematik und die Situation der Juden gewusst. Die Presse hat intensiv darüber berichtet. Die Schließung der Grenzen für die flüchtenden Juden gleicht einem Handschlag mit dem verbrecherischen Nazisystem.

Der neue Spieler auf der Weltbühne heißt Adolf Hitler und sie, die internationalen Staaten, lassen ihn spielen. Spielen mit dem Leben der jüdischen Bevölkerung. Hier reißt keiner auf der Konferenz von Evian für die Juden das Ruder herum. Es wird von Überfremdungs- und Konkurrenzängsten gesprochen. Überfremdungs- und Konkurrenzängste, die verhindern, dass nur zehn jüdische Ärzte nach Schweden einwandern können? Wirken tatsächlich Überfremdungs- und Konkurrenzängste? Zehn, nicht mehr und nicht weniger, sind zehn zu viel für einen humanitären Gedanken?

Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume. Ein Buchtitel, der auf den Wiener Bannwald mit seinen geschützten Bäumen verweist. Ungeschützt sind hingegen die jüdischen Bürger Wiens und der meisten europäischen Staaten geblieben.

Elisabeth Åsbrink erinnert daran, dass es hätte verhindert werden können, dass die europäischen Juden durch die Todestore von Sobibor, Treblinka, Majdanek, Auschwitz und Chelmno gegangen sind.
Der Fokus ist hierbei auf die Rolle des „neutralen“ Schwedens gerichtet, die für Josef und Elise Ullmann aus Wien in die Vernichtungslager geführt hat. Ihr Sohn Otto hat in Schweden überlebt. 500 Briefe sind Zeuge und einziges Sprachrohr dieses Lebensweges. 500 Briefe voller Sorge und Wehmut an den im Exil lebenden Sohn. Das Erbe eines Lebens übergeben in einem IKEA-Karton aus der Firma eines Nazisympathisanten an Ottos Tochter. 500 Briefe, durch die ein verketteter transnationaler Antisemitismus deutlich wird. 500 Briefe, die eine Angstmauer des Schweigens über das Jüdischsein für die Nachkommen errichtet haben. Die Journalistin Elisabeth Åsbrink nimmt sich dieses Schweigens und der 500 Briefe an. Dem Lebenseinblick in die Familie Ullmann werden zeithistorische Auszüge aus Zeitungen, Interviews und Dokumenten ergänzend hinzugefügt. Die Perspektive wechselt auf diese Art vom Blick auf die verfolgte Einzelfamilie auf ein sich entfaltendes Terrorsystems.

Ein Terrorsystem, das sich als beständig erweist. Elisabeth Åsbrink zeigt mit Hilfe historischer Daten, die bis zum Jahr 313 zurückgehen, die Verfolgung und Entrechtung der Juden als Kontinuität. Eine Kontinuität, die sich überwiegend subtil und transformiert und teilweise offen fortsetzt. Eine Kontinuität, die die Tochter von Otto bis heute schweigen lässt.

Ingvar Kamprad steht im Buch stellvertretend für die Täter, für die es nach dem Krieg kein zwingendes Ereignis gegeben hat, welches eine ideologische Perspektivenänderung nach sich gezogen hätte. Der Holocaust und die Mitwirkung der breiten gesellschaftlichen Massen, die sich zum Handlanger von Kriminellen gemacht haben, ist über Jahrzehnte tabuisiert worden.

Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume, ein für die historisch-politische Erinnerungsarbeit lehrreiches und sehr gut recherchiertes Sachbuch. Das Buch ist ergänzt um Fotos vom Alltag und Urlauben der Ullmanns, die noch ein intaktes Bild einer ahnungslosen Familie zeigen. Ein Bild, das auch heute nicht davor sicher ist, zerstört zu werden.

Elisabeth Åsbrink, Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume. Ein jüdisches Schicksal in Schweden, Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Och i Wienerwald star träfen kvar im Verlag Natur & Kultur, Stockholm, Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek, 416 Seiten, 2014 by Arche Literatur Verlag AG, Zürich - Hamburg, EUR 24,95 · SFR 34,90 · EUA 25,70, ISBN-13: 978-3-7160-2710-3

© Soraya Levin