Wenn wir im Jahr 2009 den 60igsten Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland, eines demokratischen Rechtsstaates, feiern, so stellt sich unweigerlich die Frage, wie es zum Untergang der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, kommen konnte.

Vielfach sprechen Historiker von der Machtergreifung Adolf Hitlers. Eine Machtergreifung setzt jedoch einen Machtkampf voraus. Doch hat dieser überhaupt stattgefunden oder sollte nicht eher von einem Machtwechsel oder einer Machtübergabe gesprochen werden? Der Historiker Guido Knopp geht in seinem Buch Die Machtergreifung dem Rechtfertigungsmythos der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers nach, in dem er Hitlers Weg zur Alleinmacht vom 1. Januar 1933 bis zum Reichsparteitag 1934 beleuchtet. Auf diesem Weg begleiten ihn die Stimmen und Einschätzungen von Zeitzeugen und Historikern.

Politisches Ränkespiel

Ende 1932 beginnt sich die nach der Weltwirtschaftskrise im Tal liegende schwache Konjunktur langsam zu erholen. Die von dem Krisenklima und dem allgemein herrschenden Pessimismus bislang profitierende NSDAP befindet sich daher bereits wieder im Abwärtsgang und verzeichnet bei der Reichstagswahl im November 1932 eine erhebliche Niederlage. So schreibt Goebbels in sein Tagebuch „Dieses Jahr 1932 ist eine einzige Pechsträhne. Man muss es zu Scherben schlagen“,...Nur einer glaubt noch an seinen kometenhaften Aufstieg, Adolf Hitler, der am Neujahrsabend 1933 schreibt „Dieses Jahr gehört uns.“ Und tatsächlich, am 30. Januar 1933 wird Hitler Reichskanzler. Verursacht durch ein folgenreiches Ränkespiel des ehemaligen Reichskanzlers Franz von Papen. Mit aller Macht versucht von Papen die Regierung unter dem Reichskanzler Schleicher zu stürzen, um mit Hilfe der Nationalsozialisten eine konservative Regierung – am liebsten unter seiner Kanzlerschaft – zu etablieren. Konspirative Treffen mit Hitler und Hindenburgs Sohn Oskar leiten die Verschwörung ein. Beteiligt an dem Komplott sind die konservativen bürgerlichen Parteien, die für ihr revisionistisches Ziel, nämlich die Schaffung eines autoritär geführten Staates, bereit sind, Hitler die Kanzlerschaft zu überlassen. Sie gehen davon aus, Hitler unter Kontrolle zu haben, da sie fast alle Ministerien im geplanten Kabinett besetzen. „In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht.“ sagt Papen und das ehemalige KPD Mitglied Emil Carlebach sagt „Als Hitler Reichskanzler wurde, gab es eine weit verbreitete Stimmung: Der hält keine zehn Monate durch.“ Für viele wie Hermann Schimanski war der 30. Januar 1933 „... ein Tag der Freude.“ Und „Viele Menschen erhofften sich eine nationale Wiedergeburt, die Überwindung des Versailler Vertrages“ wie Ulrich de Maizìere sich äußerte.

Hitler wird Reichskanzler

Hitler feiert seine Ernennung mit einem gewaltigen Fackelzug durch das Brandenburger Tor, Hand in Hand und Seite an Seite die SA, Zivilisten, Arbeiter und Sympathisanten. Die sich damals in Berlin aufhaltende französische Journalistin Stéphane Roussel beschreibt die Situation wie folgt: „Die Menschen, die in die Wilhelmstraße strömten, waren guter Laune. Sie lachten und vor allem, sie sangen.“ Bereits am nächsten Tag sind zahlreiche Gebäude mit der Hakenkreuzfahne beflaggt, gehen Lehrer in brauner Uniform in die Schulen, verlangen Arbeiter ein Mitspracherecht in jüdischen Geschäften, kommt es zu Verhaftungen und Erschießungen von Kommunisten, wird die SPD Zeitung „Vorwärts“ verboten.

Aushöhlung der Grund- und Bürgerrechte

Hitlers Ziele wie Beseitigung der Demokratie, Revision des Versailler Vertrages und die Wiederaufrüstung sowie Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und Eroberung neuen Lebensraums treffen bei den Generälen der Reichswehr auf eine breite Zustimmung.

Hitler belässt es aber nicht nur bei den Worten. Die am 4. Februar 1933 erlassene Verordnung „Zum Schutze des deutschen Volkes“ ermöglicht es jederzeit potentielle des Landesverrats Verdächtige bis zu drei Monate zu inhaftieren. Es ist der Beginn der Aushöhlung und Beseitigung der Grund- und Bürgerrechte.

Reichstagsbrand - „Das Maß ist voll! Jetzt wird rücksichtslos durchgegriffen“

Einen gewaltigen Einschnitt in die Demokratie und ein Schritt in Richtung Diktatur gelingt Hitler wiederum auf ganz legale Art, in dem er geschickt den Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 instrumentalisiert und den Kommunisten die Schuld zuweist. Am 28. Februar 1933 werden die Grundrechte und der Rechtsstaat mit der „Reichstagsbrandverordnung“ beseitigt und eine einzigartige Terrorwelle beginnt, die sogar ihren Rückhalt in der Bevölkerung findet. „Das Gesprächsthema der Menschen, die um uns herumstanden: Das hat ein Kommunist angerichtet. Das ist der Kommunismus, mit dem man Schluss machen muss.“ Der Völkische Beobachter schreibt am 1. März 1933 „Das Maß ist voll! Jetzt wird rücksichtslos durchgegriffen“. Politische Gegner und Andersdenkende werden verfolgt und in improvisierte Konzentrationslager verschleppt.

Die Gleichschaltung

Bei der letzten „freien“ Reichstagswahl am 5. März 1933 gelingt es der NSDAP trotz weitgehender Ausschaltung der Opposition zwar nicht, die absolute Mehrheit zu erreichen. Aber auch wenn sie weiterhin auf die Hilfe der DNVP angewiesen ist, beginnt die gewaltsame politische und ideologische Gleichschaltung aller gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen.

Tausende politische Gegner aus den Reihen der SPD, KPD, der Gewerkschaften und sonstiger Widersacher werden in das Ende März errichtete KZ Dachau verschleppt. Der Zeitzeuge Ulrich Hanfstaengl erinnert sich, „Alle, die behaupten von KZs nichts gewusst zu haben, sind bestenfalls Verdrängungskünstler. Wir hatten sehr früh, schon im Jahr 1933, ein kleines Gebet: ‚Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm.‘

Der Tag von Potsdam

Die Propagandamaschine läuft auf vollen Touren. Bei der Eröffnung des Reichtags wird bewusst Preußen im Sinne der Tradition ausgewählt. Vor der Garnisonskirche in Potsdam reicht sich am 21. März 1933 Hindenburg mit Hitler die Hand. Eine große symbolische Geste, die die Geschlossenheit zwischen den Nationalsozialisten und den „alten“ konservativen Kräften demonstriert.

Das Ermächtigungsgesetz – Weg in die braune Diktatur

Nur zwei Tage später tragen die bürgerlichen Parteien die Weimarer Demokratie mit ihrer Zustimmung zum „Ermächtigungsgesetz“ zu Grabe. Einzig die SPD unter Führung von Otto Wels verweigert ihre Zustimmung. „In einer mutigen Rede legte Wels noch einmal ein aufrichtiges Bekenntnis zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ab ...“

Die Losung lautet nun „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ und „Die Juden sind unser Unglück“. Einhergehend mit einem starken sichtbaren Antisemitismus wird jetzt die sogenannte „Judenfrage“ propagiert. Es folgen der Boykott jüdischer Geschäfte, die Vertreibung der Juden aus ihren Positionen und Ämtern bis zur offenen Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung. Bereitwillig und widerspruchslos mitgetragen von großen Bevölkerungsteilen.

Die NSDAP reißt die Menschen mit sich. Bis Mai 1933 steigt ihre Mitgliederzahl von „850 000 auf 2,5 Millionen“. Auch die Gewerkschaften gehen in dem Strudel mit auf, da Hitler ihnen endlich ihren ersehnten „Feiertag der nationalen Arbeit“ zugesteht. Am 1. Mai gehen sie stolz – einem riesigen Propagandafeldzug gleich - Seite an Seite mit den Nationalsozialisten.

Nur einen Tag später werden die Gewerkschaften gleichgeschaltet und ihre Funktionäre verhaftet.

Am 14. Juli 1933 gibt es im Deutschen Reich nur noch eine Partei. „Weimar war begraben, die Deutschen hatten der Republik nicht eine Träne nachgeweint.“

Die Nacht der langen Messer

Mit der Unterstützung der Reichswehr zerschlägt Hitler auch die Machtansprüche der Gegner aus den eigenen Reihen. Am 30. Juni 1934 lässt er den SA-Führer Ernst Röhm sowie weitere Führer der SA und Opponenten wie Kurt von Schleicher ermorden.

Mit dem Tod Hindenburgs am 2. August 1934 ist der Weg in die Diktatur vollendet. Adolf Hitler wird „Führer und Reichskanzler“ und das deutsche Volk bestätigt ihm in einer freien Abstimmung diesen Anspruch. Auch die Generäle der Reichswehr vereidigen ihre Soldaten ad hoc auf den „Führer“ und besiegeln damit seinen Totalitätsanspruch. Alfred Rosenberg schreibt in sein Tagebuch „Jetzt ist der Führer alleiniger Herr über Deutschland.“

Die der Katastrophe entgegen wankende Weimarer Demokratie wird freiwillig aufgekündigt und hinweg geschmettert. Ja, es gibt das Diktat des Versailler Vertrages, das schwer am deutschen Selbstbewusstsein nagt. Ja und es ist auch die Zeit der Weltwirtschaftskrise, die ein Millionenheer von Arbeitslosen und Armen produziert und beim protestantischen Kleinbürgertum Existenz- und Verlustängste hervorruft. Ja, es ist auch die Zeit der Sozialfaschismusthese, wo sich KPD und SPD nicht nur in politischen Sonntagsreden bekriegen, sondern blutige Straßenschlachten zwischen den politischen Gesinnungsgegnern den Alltag beherrschen. Und die Angst vor dem Kommunismus geht um und der einfache Bürger schreit nach Ordnung. Es ist auch die Zeit der Fehleinschätzungen und der Unterschätzung und Bagatellisierung von Adolf Hitler. Und zwar nicht nur seitens der Presse, sondern der bürgerlichen Parteien und hier ganz besonders der national konservativen Gesinnungskräfte. Es ist die Zeit des Anbiederns der katholischen Kirche sowie der Gewerkschaften und in dieser Zeit teilen die bürgerlich- nationalen Kräfte ihre antisemitische Grundhaltung mit den Nationalsozialisten. Und die deutsche Generalität der Reichswehr sehnt sich nach Rehabilitation und Revisionismus und einer wie Adolf Hitler kommt ihnen mit seinen Kriegsplänen und der Eroberung von Lebensraum im Osten sowie der Einführung der Wehrpflicht wie gerufen. Hitler als tauglich für ihre eigenen Ziele befunden, zögern sie nicht, während Hindenburg noch im Sterben liegt, ihre Soldaten einen Eid auf einen Verbrecher namens Adolf Hitler schwören zu lassen. Es ist aber auch die Zeit, wo die demokratischen Strukturen nicht von Demokraten getragen werden und daher sehr zerbrechlich sind. Wie auch Hindenburg sehnen sich viele Abgeordnete des Reichstages nach dem alten autoritären System. Freiwillig beseitigen sie daher mit ihrer Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz den Rechtsstaat und den Parlamentarismus. Einzig Otto Wels von der SPD symbolisiert mit seiner Rede gegen das Ermächtigungsgesetz noch einen letzten zwar bewegenden aber leisen Widerstand. Denn es gibt keine Massenerhebung, keinen Generalstreik, keine Proteste und keine Rebellion, um das braune Chaos abzuwenden. So liefert die Weimarer Demokratie politischen Intriganten wie dem ehemaligen Reichskanzler von Papen die Bühne für ihr folgenreiches Ränkespiel.

Es zeigt sich, dass es keinen Machtkampf gibt, um die erste deutsche Demokratie zu verteidigen und damit gibt es auch keine Machtergreifung Hitlers. Es ist eine bittere Tatsache, aber die Macht wird – begünstigt durch die Strukturen der Weimarer Verfassung und die verschwörerischen Kräfte – freiwillig an Hitler übertragen.

Guido Knopp zeigt mit Die Machtergreifung die vergebenen Chancen auf, den Verbrecher und Wegbereiter des Völkermords Adolf Hitler zu stoppen. Das Buch gibt Antworten auf viele offene Fragen über das Ende der Weimarer Demokratie. Besonders die Augenzeugenberichte und die Einschätzungen der Historiker machen eins deutlich: Die Weimarer Demokratie hätte gerettet werden können, Millionen Tote und der Holocaust wären kein historisches furchtbares Schicksal geworden. Auch wenn Demokratie erst erlernt werden muss, gibt es auf keinen Fall einen Freispruch für diese umfassende Komplizenschaft.

Die Machtergreifung von Guido Knopp, ein eindrucksvolles historisches Dokument, untermauert mit Augenzeugenberichten und einzigartigen Archivbildern über Hitlers Wegbereiter zur Macht und seine willigen Helfer auf den Weg in den Völkermord.

GUIDO KNOPP, Die Machtergreifung, ORIGINALAUSGABE, Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 304 Seiten, 15,0 x 22,7 cm, durchgehend s/w-Abb., ISBN: 978-3-570- 00622-1, 19,95 [D] | 20,60 [A] | CHF 34,90, Verlag: C. Bertelsmann, München im Februar 2009

© Soraya Levin