Sechs Jahrzehnte nach der Proklamation des Staates Israel am 14. Mai 1948 begibt sich der Historiker Tom Segev mit seinem Werk „Die ersten Israelis“ auf die Spuren dieser ersten jüdischen Pioniere. Die Einblicke in die Archive und in das Tagebuch von David Ben- Gurion ermöglichen Tom Segev einen vielschichtigen weniger schimmernden entmythisierten Blick in die Vergangenheit.

Heimat und Heimatlosigkeit

Sie kommen in das Land und träumen von einem idealistisch uneigennützigen jüdischen Gemeinwesen, das sie Heimat nennen können.

Doch die ideologisch im Sinne des sozialistischen Zionismus geprägten Siedler sind von Beginn der Staatsgründung an in Auseinandersetzungen mit ihren arabischen Nachbarstaaten verwickelt. Mit dem ersten Nahostkrieg entsteht für die einen Heimat und für die anderen, mehrheitlich die arabische Bevölkerung, Heimatlosigkeit. „In Galiläa wurden vor allem Muslime vertrieben.“ Und die Araber, die die Armee nicht vertreibt, versucht man zur Ausreise zu überreden oder man macht ihnen Angst. „Rettet euch, solange ihr noch rauskommt!“. Unsicherheit und Misstrauen bestimmen das israelische Handeln. „Die Sicherheitsinteressen machen es erforderlich, dass wir sie loswerden...Dass 600 000 Araber das Land verlassen hatten, weckte Hoffnung, die 100 000, die geblieben waren, lösten Furcht aus.“ Mit der Furcht nehmen die Repressalien gegenüber der arabischen Bevölkerung, die nun der Militärverwaltung unterstellt wird, zu. „Die Herrschaft der Militärverwaltung war ...von Anfang an durch Willkür gekennzeichnet.“ Das zurückgelassene Vermögen der arabischen Flüchtlinge vereinnahmt der Staat Israel für sich. Und auch die idealisierte Selbstlosigkeit des jüdischen Pioniers zeigt eine andere Realität. „Manche hatten während des Krieges geplündert und geraubt, andere danach,... Die ersten Israelis waren somit auch nicht tugendhafter als jene, die nach ihnen kamen.“ Die im Land bleibenden Araber erhalten die israelische Staatsbürgerschaft. Die Regierung versucht sie zwar in alle gesellschaftlichen Bereiche zu integrieren aber sie bleiben dennoch Bürger zweiter Klasse. Zwei Parallelwelten – eine jüdische und eine arabische – stehen nebeneinander.

Zustrom aus aller Welt

Und jene, die nach den Flüchtlingen neu ins Land kommen, kommen aus grundverschiedenen Kulturen. Ihre Heimat ist nicht nur West- und Osteuropa sondern auch der Orient. Säkulare moderne weltlich gebildete Schichten treffen mit aller Wucht auf tradierte altertümliche bildungsferne Gruppen. „Sie wissen, dass wir keine gemeinsame Sprache mit ihnen haben. Unser Kulturniveau ist nicht dasselbe. Ihre Lebensweise ist mittelalterlich.“
Ein in sozialen, religiösen und ethnischen Belangen hoch explosives Vielvölkergemisch, das zur Belastung für den jungen Staat wird. Mit stärkerem Zustrom der orientalisch- arabischen Juden wird der Ruf nach mehr westlich geprägter und selektiver Einwanderung laut. „Dies wird im Land alle Aspekte des Lebens beeinflussen...und „zur Erhaltung des 
kulturellen Niveaus des Landes ist ein Einwandererstrom aus dem Westen erforderlich.“ Die politischen Zionisten der ersten Stunde beginnen sich von den Einwanderern zu distanzieren und sie zu diffamieren. „Sie sind faul...“ Sie haben sich daran gewöhnt, auf Staatskosten zu leben...“

Die Einwanderungswellen sind zu Beginn der Staatsgründung noch sehr schwach. Der erste israelische Ministerpräsident David Ben-Gurion sagt,...“Tausende von Jahren waren wir ein Volk ohne Staat. Jetzt besteht die Gefahr, dass Israel ein Staat ohne Volk wird.“ Die Regierung ist daher bemüht, massiv Einwanderer anzuwerben. „Selbst Juden, die ihr Heim nicht verlassen wollen, müssen dazu gezwungen werden, zu kommen.“ Die Förderung der jüdischen Einwanderung reicht von Kopfgeldzahlungen bis zum Rückkehrgesetz von 1950, das jedem jüdischen Angehörigen das Recht gibt nach Israel einzuwandern und die israelische Staatsbürgerschaft zu erhalten.

Zuspitzung und Polarisierung

Doch als der Einwanderungsstrom nicht abreißt, kippt die Lage und verkehrt sich ins Gegenteil. Ökonomisch ist der Masseneinwanderung kaum zu begegnen. „Wenn wir die Einwanderung nicht regulieren, werden wir untergehen“. Zudem bietet die neue Heimat keine kompetente Betreuung für die Eingewanderten. Grundlegende Fragen und Bedürfnisse sind nicht geklärt. Die Einwanderer werden in Lager gepfercht, ohne ausreichende Ernährung und bei mangelnder medizinischer Versorgung fristen sie ein erbärmliches Dasein ohne Arbeit und ohne Perspektive.

“Historisch gesprochen stehen die Lager für ein Scheitern, dessen tragische Ironie auf der ganzen Welt beispiellos ist: Juden stecken andere Juden in Lager. Es hat den Anschein als hätten sie aus ihrer Tragödie überhaupt nichts gelernt.“
Alle gesellschaftlichen Bereiche wie insbesondere auch das Bildungssystem sind durchzogen von den Spannungen der kulturellen und religiösen Vielfalt der Einwanderer. So existieren neben den staatlichen säkularen Schulen, die staatlich-religiösen, die jüdisch-orthodoxen und die arabischen Schulen. Neben dem weltlich-sozialistischen Zionisten und sich bekennenden Israeli der konservative Jude, der orthodoxe Jude, der arabische Jude.

Und über den neutralen weltlichen Staat breitet sich beängstigend die Decke der Religion aus. Um der inneren Stabilität Willen kommt es bis heute zu keiner Trennung zwischen Staat und Kirche.

Fazit

Schonungslos ohne Tabus und auf beeindruckende, unterhaltsame Weise zeigt der Historiker Tom Segev die bewegte Geschichte der Staatsgründung Israels. Sein Blick in die Vergangenheit räumt auf mit dem klischeebehafteten mythischen Weltbild des zionistischen schillernden Pioniers der ersten Stunde. Segevs Werk ist aber, wie ihm teilweise vorgeworfen wird, durchaus keine einseitige Anklage. Seine bisweilen schmerzhaften moralisch in Frage stellenden historischen Fakten geben vielmehr eine Antwort auf die kulturelle und ökonomische Herausforderung des neu zu gründenden jüdischen Gemeinwesens.

Untrennbar mit dieser historischen Leistung sind die Lebensschicksale der vertriebenen arabischen Bevölkerung sowie der jüdischen Eingewanderten verbunden.
Theodor Herzls Traum eines eigenen jüdischen Staates verlangt in seiner Umsetzung die radikale Einbeziehung der Realität. Flucht und Vertreibung für die einen und eine neue zionistische Siedlungspolitik für die anderen. Angst vor dem arabischen Terror und 
gleichzeitig Hoffnung auf die Zukunft. Eine sich zuspitzende ökonomische Lage und menschliche Tragödien aufgrund der massiven Einwanderungswellen, verstärkt durch die arabisch orientalische Einwanderung. Eine zerklüftete Landkarte voller westlich-geprägter weltlicher und tradierter religiöser Überzeugungen. Ein Bildungs- und Wohlstandsgefälle, das einer Integration entgegenwirkt und Parallelwelten schafft. Letztlich eine Gesellschaft, die in allen Bereichen polarisiert und die sich in ihren heftigen Auseinandersetzungen immer wieder zu einem Minimalkonsens zwingt. Ein Minimalkonsens gegen Terror. Ein Minimalkonsens für die Chance weiterhin von der Zukunft reden zu können.

Tom Segev, Die ersten Israelis, Die Anfänge des jüdischen Staates, Originaltitel: 1949. The First Israelis, Originalverlag: Henry Holt, Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm, Hans Freundl, Gebundenes Buch, 416 Seiten, 16 s/w Abbildungen, ISBN: 978- 3-88680-889-2

24,95 [D], 25,70 [A], SFr43,90, München April 2008, Siedler Verlag (Verlagsgruppe Random House)

© Soraya Levin