Erez Israel – vom Junikrieg 1967 zum Pulverfass „Naher Osten“

Der israelische Journalist und Historiker Tom Segev liefert mit 1967, Israels zweite Geburt, ein umfassendes Werk über die Entstehung des Sechs-Tage-Krieges, den Verlauf und die bis heute wirkenden Folgen. Segev stützt sich dabei auf 25 historische Archive verschiedener Länder, auf Berichte, Tageszeitungen und ganz persönliche Briefe.

Israels Identitätssuche

Der Sechs-Tage-Krieg ist eng verknüpft mit der Frage nach der israelischen Identität. Der Antisemitismus und der Holocaust prägten die europäische Diaspora der Juden. Die mit der Balfour-Deklaration vom November 1917 zugesicherte Gründung eines Staates Israel in Palästina geht am 14. Mai 1948 in Erfüllung. Für viele Zionisten wird ein Traum wahr. Israel soll für die vielen europäischen jüdischen Einwanderer eine gemeinsame nationale Kultur schaffen. „Das grundlegende Ziel Israels besteht aus einer ‚Verschmelzung der Diasporas’ durch eine Gesellschaft, die im Geiste des amerikanischen Versuchs als ‚Schmelztiegel’ fungiert.“ Doch da ist die Kluft zwischen der orientalischen und okzidentalen Welt. Und obwohl Israel ein Einwanderungsland ist, bereitet die hohe Emigration Sorge. „Diese Araber sollten nicht hier leben, genau sowenig wie die amerikanischen Juden in Amerika leben sollten“, so der Gründungsvater David Ben Gurion 1950.

Vom „dizingoffen“ in die Rezession

Mitte der 60er Jahre kehrt sich das Bevölkerungsverhältnis zwischen den europäisch und orientalisch gefärbten Juden um. Die Majorität der orientalischen Einwanderer macht Angst und wirkt bis tief in den geistig-kulturellen Bereich. Die Ängste verstärken sich durch eine beginnende Wirtschaftskrise. Heißt es Anfang 1966 noch man gehe „dizingoffen“, und verbindet sich damit ein weltlich-kulturelles und wirtschaftlich nach vorn strebendes Milieu, sichtbar an der weltoffenen Dizingoffstraße in Tel Aviv, so wirkt knapp ein Jahr später die Rezession und allmählich schwindet das Vertrauen in den neuen Staat. „Hier gibt es nicht viel Neues, nur das alles Schlechte noch Schlechter wird“ so in einem Brief nach Übersee. Die Rezession macht die soziale und wirtschaftliche Not der arabischen Bevölkerung sichtbar und die Gesellschaft droht auseinander zufallen. Die israelische Tageszeitung Ha’aretz schreibt, „Unser System und unsere Regierung verrotten“. Chaim Gadol, ein Schneider aus Haifa sagt, „Meiner Ansicht nach hat das Land keinen Vater, niemanden, der es führen, der ihm Inspiration, Ermutigung und Energie einflößen und den Bürgern ein Vorbild sein könnte.“

Zudem formiert sich bereits Ende der 50er Jahre ein palästinensischer Widerstand in Form der Fatah, angeführt von Jasir Arafat.

Die arabische Provokation

Im Sommer 1966 gibt sich der arabische Nachbar Ägypten provokativ und kampfbereit. Militärische Einheiten werden in die Grenzgebiete zu Israel verlegt. Der ägyptische Präsident Nasser schließt Verteidigungsbündnisse mit Syrien, Jordanien und dem Irak und sperrt die Straße von Tiran und damit den Schifffahrtsweg zum Hafen von Eilat. In der Bevölkerung herrscht Panik und Angst vor einem zweiten Holocaust. „Nasser drückt sich so klar aus wie Hitler am Vorabend des Zweiten Weltkrieges“. Der israelische Ministerpräsident Eschkol behält sich Vergeltungsmaßnahmen vor. „...das Kontobuch ist aufgeschlagen und die Hand zeichnet auf... “. Die politische Elite ist uneins über dem Umgang mit der Krise und in zahlreichen heftigen Wortgefechten wird die Frage gestellt: ‚Abwarten oder Krieg?’ Die Regierung droht auseinanderzubrechen. Syrische und jordanische Terroranschläge verschärfen die ehedem angespannte Situation. „Das Land bebt vor Entrüstung“.

Der Sechs-Tage-Krieg

Am 5. Juni 1967 vernichtet Israel in einem Präventivschlag gegen Ägypten hunderte von Kampfbombern der Ägypter. Moshe Dayan ruft, „Haben sie den Verstand verloren? Sie führen das Land in den Krieg!“.
Die Bevölkerung fragt, ...“Wer braucht denn diese Kriege...“ und Soldaten schreiben „Gütiger Himmel, jetzt fahren wir wieder über Leichen, über tote Ägypter, über einzelne Gliedmaßen, über einen und noch einen und noch einen.“ Und Landwirtschaftsminister Gvati schreibt, „Hier sieht man, wie der Krieg das Leben Tausender Familien zerstört und sie entwurzelt hat“.

Es folgen weitere Einsätze der Armee gegen Syrien und Jordanien. Die Golan-Höhen, der Gaza-Streifen, die Sinai-Halbinsel, das Westjordanland und Ostjerusalem werden durch die israelischen Truppen besetzt. Nach sechs Tagen kommt es durch die Vermittlung der Vereinten Nationen zum Waffenstillstand.

„Unsere Stadt ist eure Stadt, und eure Stadt ist unsere Stadt“

Nach dem Krieg ist die Bevölkerung von einem kraftvollen Gefühlsausbruch und einer Hochstimmung beherrscht. Erez-Israel ist wiedergeboren. Die besetzten Gebiete und die Wiedererlangung sind für viele wie ein „Wunder“. Besonders die Wiedervereinigung Jerusalems. Denn „die Teilung Jerusalems war nach wie vor eine offene Wunde, die von vielen als schmerzlich empfunden wurde.“ „Ich bin kein religiöser Mensch, aber ich berühre hier die Kotel“, schluchzt der Radiomoderator von Kol Israel. „Die Menschen sind freudetrunken“.

In der Bevölkerung kehrt das verloren gegangene Vertrauen in den Staat zurück und vermischt sich mit einer Rückbesinnung auf Werte aus der Zeit der zionistischen Pioniere. Doch bringt der Krieg keinen Frieden und keine Sicherheit für Israel.
Die politisch-strategische Ausrichtung „Land für Frieden“ wird selbst von Schriftstellern wie Amos Oz, die für „kein Rückzug ohne Frieden“ eintreten, unterstützt. Aber „Selbst wenn wir ihnen Berge von Gold offeriert hätten, wären sie misstrauisch geblieben“. Ägypten und Syrien lehnen das Angebot ab.

Eine weitere strategisch-politische Ausrichtung ist die „Politik der offenen Brücken“. Damit verbunden ist eine starke wirtschaftliche Verflechtung zwischen den besetzten Gebieten und Israel. Neben der Verbesserung der Lebensbedingungen im Westjordanland, gibt die Strategie den notwendigen Hinweis über den zukünftigen Umgang mit den besetzten Gebieten, der lautet ‚Kein Rückzug’.

Tom Segevs 1967, Israels zweite Geburt, ist weit mehr als ein Sachbuch. Vielmehr ein literarisches Feature, dass die Ursachen, den Verlauf und die Folgen des Sechs-Tage- Krieges von dem subjektiven Bewusstsein Israels und seiner Bevölkerung aus beleuchtet. Die objektiven Merkmale für den Präventivschlag Israels am 5. Juni 1967 gegen Ägypten sind nach Segevs Analysen ein Mythos. Die „reale“ Kriegsbedrohung entstand durch Panik und Angst, hervorgerufen durch das Holocausttrauma, dass durch den Verlust von Identitätswerten verstärkt wird. Mit dem Sechs-Tage-Krieg erfolgt eine Rückbesinnung auf die zionistischen Werte, kehrt das Grundvertrauen in den Staat Israel wieder zurück. Der „gute“ Kibbuz-Soldat wird zum Mythos. Der Sechs-Tage-Krieg als Wunder, als israelische Wiedergeburt, besonders durch die Wiedervereinigung von Jerusalem. Nach Segev ist das Wunder aber lediglich ein Phyrrussieg, denn Frieden und Sicherheit hat der Krieg nicht gebracht. Vielmehr verstärkt der Sechs-Tage-Krieg das palästinensische Flüchtlingsproblem und die politische Elite vergibt die Chance auf eine Lösung.

Doch worin hat die Chance für eine Lösung des Flüchtlingsproblems bestanden? Auf die Möglichkeiten, unter Berücksichtigung aller konkurrierenden Beweggründe, geht Segev nicht ein. Das Friedensangebot Israels nach dem Sechs-Tage-Krieg „Land für Frieden“ wird auf der Gipfelkonferenz der arabischen Liga in Khartum dreimal mit „Nein“ abgelehnt. „Kein Frieden mit Israel, keine Verhandlungen mit Israel, keine Anerkennung Israels.“

Der ägyptische Präsident Nasser attackiert Israel verbal, rüstet sein Militär auf, verlegt Truppen in den Sinai und verbündet sich mit Syrien. Ägypten sperrt die Straße von Tiran und damit den internationalen Schifffahrtverkehr nach Eilat. Arabische Truppenverlegungen an die Grenzen Israels und Grenzzwischenfälle verschärfen die Situation. Israel kann sich aufgrund dieser objektiven Tatsachen nicht in Sicherheit wiegen. Die tatsächliche Bedrohung durch die arabischen Staaten bleibt bestehen und wird lediglich noch verstärkt durch die Angst vor einem zweiten Holocaust. Hier von einem Mythos zu sprechen, wie Segev es tut, klammert diesen Aspekt der objektiven Kriterien völlig aus.

Die Frage Segevs, ob der israelische Ministerpräsident Eschkol zulange mit dem Kriegseintritt gewartet hat, ist sicherlich nicht zu beantworten. Deutlich wird jedoch in Segevs Ausführungen, dass sich die politische Elite äußerst schwer mit ihrer Entscheidungsfindung Krieg oder kein Krieg tut. Endlose Debatten, die auch die internationale Meinung berücksichtigen, insbesondere die der USA, die gegen einen Krieg ist, führen sogar bis zur Absetzung Eschkols als Verteidigungsminister. Die gereizte Stimmung im Land trägt mit zur Entscheidungsfindung eines „Präventivschlag“ zur Sicherung Israels bei, ist aber aufgrund der Fakten nur ein weiterer Krisenbaustein.

Dass Kriege generell grausam und unmenschlich sind, dass Soldaten zu Tätern und auch zu Mördern werden, kann nicht in Abrede gestellt werden. Dass es aber auch im Krieg menschliche Gefühle und Regungen gegen die Gewalt und Brutalität gibt, kann auch nicht in Abrede gestellt werden. Der Kibbuz-Soldat ist daher – wie jeder Soldat in jedem Krieg – von zwei Seiten zu betrachten.

Konfliktherd zwischen Palästinensern und Israelis

Das die Wiedervereinigung Jerusalems, das religiöse Zentrum Israels, überwältigende Emotionen hervorruft, ist verständlich. Erinnern wir uns an die Wiedervereinigung zwischen Ost- und Westberlin. „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört!“ so von Willy Brandt am 10.11.1989 in der Hoffnung für Berlin. „Unsere Stadt ist eure Stadt, und eure Stadt ist unsere Stadt“ so Teddy Kolleg im Juni 1967 in der Hoffnung für Jerusalem.

Wie auch immer eine sinnstiftende Identitätspolitik für Palästinenser und Israelis aussieht. Diese beiden Sätze könnten ein Anfang sein, für eine friedliche – ehemals bestandene und wiederauferstehende Koexistenz zwischen Juden, Arabern und Christen in einer geeinten Stadt.

Das multikulturelle Israel hat schon längst die Brücke zwischen Okzident und Orient bauen müssen. Wenn Jean-Paul Satre sagte, „der Schlüssel zur Lösung des israelisch-arabischen Konflikts liegt in der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge“, dann kann hier eine weitere Brücke entstehen, ein Land zusammengesetzt aus einem Mosaik unterschiedlichster Kulturen, fußend auf den Werten der Aufklärung und der Freiheit. Fußend auf einen wirtschaftlich gemeinsamen Erfolg. Solch eine nationale gemeinsame Identitätsbildung kesselt den Terrorismus und die Radikalen auf beiden Seiten ein. Das Abkommen von Oslo 2003 und die Road-Map sind hingegen ausgerichtet auf einen Flickenteppich im Nahen Osten, der radikal terroristisch ausgeprägte Gruppen wie die Hamas und die Hisbolah am Leben hält.

Israels Zukunft

Wie die Zukunft Israels aussieht? Nach Tom Segev befindet sich Israel und seine Zukunft heute genau dort, wo es sich 1967 befunden hat.
Die Konferenz in Annapolis im November 2007 als „neuer“ Friedensweg bleibt daher sicherlich zweifelhaft, sofern sie nicht bereit ist, die Frage nach einer gemeinsamen nationalen Identität zu stellen.

Unzweifelhaft hingegen bleibt das Israels Sicherheit und der Frieden im Nahen Osten auch unsere Sicherheit und unseren Frieden in Europa und der Welt bedeuten.

Tom Segev spricht mit seinem komplexen Werk ein äußerst vielschichtiges und problematisch schwer zugängliches Thema an. Das Buch gibt einen leichten und guten Zugang zu der Nah-Ostproblematik, da es nicht nur reine Fakten aneinanderreiht sondern ganz persönliche Betroffenheit Einzelner herausstellt. Es liefert ganz neue Gedanken zum Nahostkonflikt und lässt Raum für eigene Gedanken und weckt Interesse für die Nahostproblematik.
Keine ermüdende Quälerei durch die Historie, sondern eine ernste packend, mitreißend und aufrüttelnde Auseinandersetzung mit dem Sechs-Tage-Krieg. Ein beeindruckendes überaus empfehlenswertes Werk, das eines der vielen Gesichter des Nahostkonfliktes zeigt.

Tom Segev, 1967, Israels zweite Geburt, aus dem Englischen von Helmut Dierlamm, Hans Freundl, und Enrico Heinemann, 797 Seiten, gebunden, mit Abbildungen, 28,00 [D] / 28,80 [A], sFr 18,80, ISBN 978-3-88680-767-3, München 2007, Siedler Verlag (internationale Ausgabe: 1967: Israel, the War, and the Year that Transformed the Middle East“ bei Metropolitan Books, New York 2007)

© Soraya Levin