„Ich will diese Verbrechereltern nicht“. Das sagt keine pubertierende Jugendliche im Streit, das sagt eine gestandene Frau am Grab ihrer Eltern. Eine Frau, die nicht leichtfertig die Etikettierung Verbrecher und Mörder für die eigenen Eltern verwendet. Eine Frau, die sich der schuldverstrickten Vergangenheit ihrer Familie stellt. Eine Frau, die sich der Verantwortung des belasteten Erbes als Täterkind bewusst ist. Beate Niemann ist ihr Name. Sie ist die Tochter eines NS-Verbrechers. Diese bittere Wahrheit hat sie über Jahre nicht gewusst. Nicht dass der Vater als ein unbekannter Fremder die Familiengeschichte prägte. Vielmehr hielt sich hartnäckig verklebt eine irreführende und verlogene Opferbiografie ihres Vaters Bruno Sattler.
Er ist bei der Kriminalpolizei beschäftigt gewesen und im Dritten Reich SS-Sturmbannführer sowie Gestapochef in Belgrad bei dem berüchtigten Sicherheitsdienst des Reichsführers SD gewesen. Sattler, ein Massenmörder, verantwortlich für die Ermordung der jüdischen Zivilbevölkerung, Partisanen und Andersdenkender. Nach dem Krieg taucht er in W-Berlin mit einer falschen Identität unter. Die Mutter lässt den entnazifizierten Bruno Sattler für tot erklären. 1947 wird er in den Ostteil entführt und dort später zu lebenslanger Haft verurteilt. Damit wird der Familie bewusst, Bruno lebt. Die Mutter lässt nichts unversucht, ihren Mann freizubekommen. Es gelingt ihr an die Urteilsakte zu kommen. Der W-Berliner Senat attestiert ein Unrechtsurteil und entnazifiziert Sattler ein zweites Mal. Der West Berliner Senat rehabilitiert also einen NS-Massenmörder und versetzt ihn in den Status eines amtierenden Polizeibeamten. Mit diesem ehrbaren Bild des Vaters, der nur von Amts wegen zur Gestapo versetzt worden ist, wächst Beate Niemann auf. Die Mutter bewässert dieses Bild über Jahre.
Das Thema Gerechtigkeit bestimmt fortan Beates moralischen Kompass. Als Jugendliche verstört sie der Dokumentarfilm „Nacht und Nebel“, der das Unfassbare über die Vernichtungslager und den Holocaust zeigt. Persönliche Betroffenheit zeigt sie auch nach dem blutig niedergeschlagenen Ungarnaufstand 1956. Ihre Hilf- und Sprachlosigkeit drückt sie mit ihrem persönlichen Trauerjahr aus.
Es mag die Sehnsucht aus der mütterlichen Enge gewesen sein, aber höchstwahrscheinlich ebenso ihr Bedürfnis zu helfen, das sie nach der 11. Klasse als Aupairmädchen ins Ausland treibt. Ausgerechnet zum über Generationen hinweg verhassten Gegner, nach England, wie ein alter Freund ihres Vaters sich entrüstet.
Sie sagt, sie ist dort Mensch geworden. Ein Mensch, der sich öffentlich für Gerechtigkeit einsetzt und ein Mensch, der sich empört. Sie engagiert sich über Jahre für Amnesty International und schließt sich der Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg und 1967 gegen den persischen Schah Reza Pahlevi an.
Der Tod des Vaters im Jahr 1972 wird zur seelischen Belastung, da sich Beate verantwortlich dafür fühlt, dass sie ihn nicht auf eine der Freikauf-Listen der Bundesrepublik gesetzt bekommen hat.
Nach dem Mauerfall sieht sie die Möglichkeit, ihren Vater zu rehabilitieren. Ihr gestellter Antrag scheitert jedoch. Der Hinweis, dass die Verurteilung ihres Vaters durchaus gerechtfertigt gewesen sei, wühlt sie dermaßen auf, dass sie mit intensiven Nachforschungen beginnt.
Beate beantragt Einsicht in die Stasiakte ihres Vaters. Das bittere Gegenteil zu der geglaubten Unschuld des Vaters wird sichtbar: Seine Gräueltaten an den Juden, Romas, Partisanen und anderen. Ein bestürzender moralischer Nullpunkt. Nicht der ehrbare Vater, sondern ein kaltblütiger Massenmörder, der sich gemeinsam mit der Mutter gewissenlos an jüdischem Eigentum bereichert hat. Ein langer Weg bis zur Wahrheit beginnt. Ein Weg, der bis heute anhält. Beate besucht die Täterorte, spricht mit Angehörigen der Opfer, geht an die Öffentlichkeit mit ihrem Wissen, veröffentlicht eine Biografie über ihren mörderischen Vater und ist die Protagonistin in zwei Dokumentarfilmen über ihren Vater. Die Titel sprechen für sich: „Vater, Du Mörder“, „Mein Vater, der Mörder“, „Ich will diese Verbrechereltern nicht“.
Von den einen, auch von Teilen der eigenen Familie, wird ihr voller Hass vorgeworfen, posthume die Familienehre zu beschmutzen. Ihre schonungslose Abrechnung mit der Familiengeschichte kostet Kraft und Mut und stößt nicht auf viel Gegenliebe, bei denen, die selbst betroffen sind.
Sie selbst nimmt jetzt die Abwehrhaltung in der Gesellschaft viel stärker wahr. Von abwertenden Bezeichnungen wie Nestbeschmutzer bis zur Schlussstrichdebatte.
„Wir heutigen haben nicht genug aus der Geschichte gelernt und dagegen lehne ich mich auf ...“. Ein Auflehnen, das eine Aufklärung nicht nur einfordert. So ist sie als Zeitzeugin aktiv und enttabuisiert die idealisierte Familienfassade. Damit steht sie stellvertretend für ein Dilemma, indem sich die Täterkinder befinden: Identitätssicherung bei gleichzeitiger familiärer Schuld. Es geht dabei nicht um eine vererbbare Schuld, sondern um das verpflichtende Erbe, mit dem die Täterkinder konfrontiert sind. Ein Erbe, dass sie nicht aus ihrer Verantwortung entbindet. Ein Erbe, dass nicht ablehnbar ist. Eine Verantwortung, die sichtbar wird, wenn wie selbstverständlich jüdische Einrichtungen geschützt werden müssen, wenn Hassparolen auf deutschen Straßen gegen Juden und Israel von staatlicher Seite geschützt und toleriert werden.
Die Verlegerin Nea Weissberg, selbst Kind von Holocaustüberlebenden, hat Beate Niemann dazu gedrängt dieses Buch zu schreiben. Ein Kind von Tätern publiziert in einem Verlag eines Kindes von Opfern. Was beide eint, ist das lange familiäre Schweigen und die Auswirkungen auf sie als Nachkommen.
Ein verantwortungsvolles Buch, das den Prozess des Vergessens unterbricht und ihn dadurch nicht zum Bestandteil des Holocaust werden lässt.
Beate Niemann, Ich lasse das Vergessen nicht zu, Lichtig-Verlag, Berlin 2017, ISBN: 978-3-929905-35-0, 112 Seiten, EUR 14,90
© Soraya Levin