„Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.“ Mit diesem Zitat aus Goethes Faust I beginnt der Artikel „Verjährung, NS-Verbrechen“ in DER SPIEGEL (11/1965 vom 10.03.1965, Seite 30). Ist nach Mephisto, der Böse alias Hitler verschwunden, dann bleibt die Frage nach den gebliebenen Bösen.

Bereits der erste deutsche Film der Nachkriegszeit greift Mephistos Zitat auf. 1946 zeigt Wolfgang Staudte mit seinem Film „Die Mörder sind unter uns“ wie NS-Verbrecher strafrechtlich ungeschoren im Nachkriegsdeutschland ihren nahtlosen Neubeginn wagen.

NS-Verbrecher, die vielfach auch der verbrecherischen Institution der Gestapo angehörten. Was ist aus diesen Tätern im Nachkriegsdeutschland geworden? Wurden die Massenmörder der Gestapo zur Rechenschaft gezogen oder konnten sie unbehelligt ihren Neubeginn starten?

Aufbau und Inhalt

Klaus-Michael Mallmann, Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg und Andrej Angrick, Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, gehen in ihrem Buch Die Gestapo nach 1945 mit 13 weiteren Politikwissenschaftlern, Historikern, Soziologen, Philosophen und Publizisten den eingangs gestellten Fragen nach.

Die beiden Herausgeber teilen ihr Buch in drei Bereiche auf. Im ersten Teil beleuchten die Autoren die Karrieren der ehemaligen Gestapo-Angehörigen. Welche Fluchtwege boten sich für die Täter, wie sah die Hilfe aus und welche nachhaltigen unterstützenden Verbindungen sorgten dafür, dass die Täter ein unbeschwertes Leben führen konnten.
Der zweite Teil mit dem Titel Konflikte beschäftigt sich mit dem gesellschaftlichen Selbstverständnis der Deutschen zu den NS-Verbrechen und Massenmördern und der hieraus folgenden Verjährungsdebatten für NS-Morde.

Im dritten Teil geben die Autoren einen Querschnitt über den Täterdiskurs innerhalb der Gesellschaft und innerhalb der Lehre.

„Institutionellen Verinselung der Untaten“

Die bedingungslose Kapitulation des Dritten Reiches im Mai 1945 bedeutet noch lange nicht ein Ende des Nationalsozialismus. Von den zu Jahresbeginn 1944 zählenden 31.374 Gestapo-Angehörigen überleben fast 25.000 den Krieg. 25.000 Angehörige einer verbrecherischen Organisation, die zu krankhaften Persönlichkeiten erklärt werden. Der Täterkreis wird somit auf wenige extrem widernatürliche Personen reduziert. Mallmann und Angrick sprechen hier von einer „institutionellen Verinselung der Untaten“. Unter dem Deckmantel der Ahnungslosigkeit stellen sich die Täter selbst den Beweis ihrer Unschuld aus. Ihre Überzeugung wird zum allumfassenden Entlastungsmaterial.

Fluchthilfe und Schlussstrich

Die, die die Flucht ergreifen, können sich in den Trecks von Flüchtenden und Vertriebenen leicht verbergen. Mit Unterstützung des Internationalen Roten-Kreuzes, das Ersatzpässe für die Dokumentlosen ausstellt, gelingt es vielen NS- Massenmördern wie auch Eichmann, sich eine neue Identität zu geben. Mit Hilfe der katholischen Kirche und besonders aktiven bischöflichen Würdenträgern wie Alois Hudal, entkommen viele NS-Verbrecher über die sogenannte „Rattenlinie“ oder „Klosterroute“ nach Übersee. Bozen-Genua heißt der Weg für die Massenmörder in die Freiheit. Ein Weg in die Freiheit, der unterstützt wird von dem Verein „Stille Hilfe“. Unterstützung finden auch Gestapo-Agenten des amerikanischen Geheimdienstes, denen die Enttarnung droht oder die schlicht überflüssig geworden sind.

Die Angehörigen der Gestapo, die nicht fliehen, haben aber im Nachkriegsdeutschland kaum etwas zu befürchten. Eine Enttarnung droht aufgrund der geringen Aktivität der deutschen Justiz, die selbst von ehemaligen NS-Verbrechern durchsetzt ist, den Wenigsten. Wenn überhaupt, handelt es sich um zufällige Entdeckungen. Nicht die Ahndung der Täter steht im Nachkriegsdeutschland im Vordergrund, sondern der Wiederaufbau und die Westintegration. Für beide Vorhaben benötigt die Adenauer Regierung die Gesellschaft, die endlich einen „Schlussstrich“ unter die „Sieger-Justiz- Debatten“ ziehen will. Die Folge sind gemäßigte und wohlwollende Urteile für die NS-Verbrecher und Mörder sowie zahlreiche Amnestiegesetze, die die honorigen, untadeligen und biederen Täter in die deutsche Nachkriegsgesellschaft integrieren.

Blinde Justiz

So nehmen diese mit Schuld beladenen Täter wieder ihre alten Plätze in der Justiz, der Verwaltung sowie ganz besonders im Polizeidienst ein. Kein Lebensbereich – von der Presse bis zum Bäcker – der nicht von ehemaligen NS-Verbrechern durchsetzt ist. Das Nachkriegsdeutschland als Sprungbrett für meisterhafte Karrieren wie die von Heydrichs Stellvertreter Dr. Werner Best.

Ihrem „normalen“ Alltagsleben entrissen werden erstmals NS-Täter im Ulmer Einsatzgruppenprozess 1957/58. Der Blick der Öffentlichkeit richtet sich auf jetzige Polizeieliten, die im Dritten Reich bei der SS und Gestapo weit über 4000 Menschen ermordet haben. Dem Prozess folgt die Einrichtung der zentralen Stelle zur Erfassung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Die Justiz hat damit ihren Schlussstrich gezogen. Die folgenden Verjährungsdebatten liefern hiervon Zeugnis.

Ein Schlussstrich, der im anderen Teil Deutschlands rigoros nach ein paar Alibi-Schauprozessen umgesetzt wird. Keine Verantwortungsübernahme, kein Schuldbekenntnis, keine Ahndung der NS-Täter, sondern eine Kollektiventlastung zugunsten einer neuen sozialistischen Gesellschaft, frei von jedweder Schuld an einzig kapitalistisch motivierten NS-Verbrechen.

„Hitlers Unvollendete“

Und die Österreicher? Sie sehen sich frei von jeder Schuld und einzig als Opfer des Hitlerregimes. Ihren bis dahin gelebten Antisemitismus leugnen sie vehement, während sie gleichzeitig von „Hitlers Unvollendete“ sprechen. Dieses Bild zur eigenen Vergangenheit zeigt sich auch in der Ahndung der Taten, die nach 1955 faktisch nicht mehr stattfindet. Musterbeispiele sind die Freisprüche für NS-Täter wie Fritz Ertl, dem Erbauer der Gaskammern von Auschwitz-Birkenau.

„USA-SA-SS“

Leugnen die Nachkriegsdeutschen und Österreicher die Auseinandersetzung mit ihrer NS-Vergangenheit und ihre eigene Täterschaft, so nimmt die 68er Linke stellvertretend für ihre Eltern diese Aufgabe für sich an. Ihre Parolen „USA-SA-SS“ transportieren jedoch Auschwitz und die Täterschaft aus dem Blickwinkel der schuldhaften Vergangenheit in die USA und nach Israel.

„Die Banalität des Bösen“

Auch die Wissenschaft und die Kultur vernachlässigen den Blick auf die Täter. So zeichnet das Tagebuch der Anne Frank die Biografie eines Opfers nach, radiert aber den Diskurs über die Täter und die Massenvernichtung aus. Und Hannah Arendt reduziert den millionenfachen Mord an Juden, veranlasst durch Adolf Eichmann, auf „Die Banalität des Bösen“. Projiziert wird das Bild eines alten hilflosen Mannes, der einfach nur unüberlegt und ohne bewusste Absicht gehandelt hat. Die Täter werden internationalisiert und sind ohne Gesicht. Die Wissenschaft klammert den personalisierten antisemitischen Täterdiskurs aus.

Innerhalb der Kultur wagt sich der kulturelle Antisemitismus aus seiner Deckung und fordert ein „Ende der Schonzeit“. Antisemitische Stereotype - gerechtfertigt vor dem Hintergrund der kulturellen Freiheit. Ein Musterbeispiel ist Rainer Werner Fassbinders Theaterstück über einen raffgierigen Juden „Der Müll, die Stadt und der Tod“.

So wird der Täter zum Opfer stilisiert. Ein Paradigma, dass von nonkonformen neueren wissenschaftlichen Untersuchen kritisch hinterfragt wird und die bislang vernachlässigte einfache Lust der ganz normalen Menschen am Töten sichtbar macht.

Mitverantwortung und Täterdiktat

Die Gestapo nach 1945 liefert nicht nur eine wissenschaftlich fundierte Aufklärung über den Verbleib der Gestapo- Angehörigen im Nachkriegsdeutschland. Vielmehr zeigen die zu Wort kommenden Wissenschaftler auf, dass die Reduzierung der NS-Verbrecher auf Funktionseinheiten wie die Gestapo nicht der Mitverantwortung der „normalen Bevölkerung“ gerecht wird. Der Neubeginn für die „Braun-Schweiger“, „Schwarzbürger“ oder „U-Boote“, wie die Untergetauchten genannt werden, wird sichtlich erleichtert durch zahlreiche NS-Netzwerke von Seiten der katholischen Kirche und Vereinen wie der „Stillen Hilfe“. Ein Verein, der bis 1993 sogar als gemeinnützig anerkannt wird und sich somit jahrelang mit Hilfe des deutschen Steuerzahlers für NS-Täter engagiert. Alte Seilschaften in Politik und der öffentlichen Verwaltung hieven die Täter wieder in exorbitante Stellen der neuen freiheitlichen Demokratie. Die faktische Einstellung einer Täterverfolgung ist damit zwangsläufig gegeben. Begleitet und beschleunigt durch den Mythos des Befehlsnotstandes und der Selbstreinigung und Leugnung „Wir haben nichts davon gewusst“, der eine Schlussstrichmentalität nach sich zieht, die in der DDR konsequent zu Gunsten des „neu geborenen sozialistischen Bürgers“ umgesetzt wird. Ebenso im Nachbarland Österreich, das die Beweislast einfach umkehrt und sich selbst zum Opfer stilisiert. So fällt die Mitverantwortung an dem Massenmord dem politischen und eigenen Täterdiktat zum Opfer.

Politischer Opportunismus opfert Täterahndung

Mallmann und Angrick und die anderen zu Wort kommenden Autoren machen deutlich, dass in den Hitler- Nachkriegsländern wie den beiden neuen deutschen Staaten und Österreich kein Interesse an einer strafrechtlichen oder gar moralischen Ahndung der NS-Täter besteht. Die Vergangenheit soll ruhen. So schon in der Regierungserklärung von Konrad Adenauer 1949 verkündet. „Wenn die Bundesregierung so entschlossen ist, dort, wo es ihr vertretbar erscheint, Vergangenes vergangen sein zu lassen...“. Und der Bundesregierung scheint es in der Zeit des Kalten Krieges und dem Thema der Westintegration politisch und moralisch vertretbar, die Vergangenheit zu beerdigen. Adenauers politischer Opportunismus gegenüber dem Wahlvolk opfert die Ahndung der NS-Täter. 

„Über Mord wächst ...Gras, ... über Auschwitz wächst kein Gras...“

Die Justiz stellt sich taub und blind und macht aus den Tätern lediglich schuldlose Gehilfen, die Opfer von Hitler, Heydrich und Himmler sind. DER SPIEGEL titelt hierzu in seiner Ausgabe Nr. 28 vom 09.07.1979 "Ein Toter gleich zehn Minuten Gefängnis" und der FDP-Abgeordnete Werner Maihofer äußert sich zur Verjährungsdebatte „Über Mord wächst irgendwann einmal Gras, und zwar im Regelfall schon nach einer Generation. Über Auschwitz aber wächst kein Gras, noch nicht einmal in 100 Generationen“.

Antisemitismustransformation

Eine freiheitliche Demokratie aufgebaut durch die Täter der Shoah, die den Nationalsozialismus des Dritten Reiches nicht überwindet und den Antisemitismus auch in das neue System transformiert. Eine Transformation, die sich zum einen mit den 68er Linken durch das Festhalten an der Faschismustheorie und der Verlagerung der Schuld ins Ausland, sichtbar nach außen drängt und zum anderen im Kulturbetrieb einen offen gepflegten Antisemitismus entfaltet.

So schafft es – trotz aller Vorsätze - die zweite Generation der Täter nicht, sich von den antisemitischen Stereotypen zu lösen und macht sich damit zum nachhaltigen antisemitischen Komplizen.

Paradigmenwechsel – „Aufklärung ist Abwehr“

Die Gestapo nach 1945, richtungsweisend für ein Paradigmenwechsel in Bezug auf alte entlastende Mythen. Ein nicht nur für die Wissenschaft historisch unverzichtbar respektables Buch, das im Sinne von Simon Wiesenthal deutlich macht, dass „die Überlebenden,...nicht nur den Toten verpflichtet...sind, sondern auch den kommenden Generationen“ denn „Aufklärung ist Abwehr“.

Mallmann, Klaus-Michael / Angrick, Andrej (Hrsg.), Die Gestapo nach 1945, Karrieren, Konflikte, Konstruktionen, Wissen (Bd. 14), B 20673-5, Reihe: Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg (FSL), Darmstadt 2009 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 368 S., gebunden, ISBN 978-3-534-20673-5

© Soraya Levin