1945 - Niederlage.Befreiung.Neuanfang

Ein Beitrag zur Erinnerungskultur, der die gewaltige historische Bedeutung des Krieges und des Holocausts und seine nachhaltige Wirkung auf die Folgegenerationen zeigt.

„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“. Dieser Auszug aus der Rede von 1985 des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40-jährigen Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges ist im Vorwort der Publikation „1945 - Niederlage. Befreiung. Neuanfang. Zwölf Länder Europas nach dem Zweiten Weltkrieg“ vorangestellt. Die Veröffentlichung begleitet eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin zum 70-jährigen Kriegsende des Zweiten Weltkriegs, die sich mit der Entwicklung von 12 ausgewählten kriegsbetroffenen Ländern in der Nachkriegszeit beschäftigt. Im Blickpunkt steht das Trennende und das Gemeinsame, stehen die jeweiligen Gesellschaften mit ihren Problemlagen und gravierenden Umwälzungen, stehen langfristig bis heute wirkende politische und ökonomische Weichenstellungen, steht die Strafverfolgung der NS-Täter und ihrer Helfer. 12 Länder, das Täterland Deutschland mit den betroffenen Anrainerländern wie Polen, Tschechoslowakei, Österreich, Dänemark, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich sowie die zwei europäischen Siegermächte Großbritannien und die Sowjetunion und Norwegen, das beispielhaft für die Spaltung der Länder zwischen Kollaboration und dem nationalen Widerstand steht.
Die jeweiligen Länderdarstellungen sind durch umfangreiches für sich sprechendes Bildmaterial dieser Zeit ergänzt.
Vorangestellt ist ein historischer Abriss über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegsentwicklung.

8. Mai 1945, der Krieg in Europa ist zu Ende. Was er hinterlässt sind zerstörte Städte, zerstörte Infrastrukturen und zerstörte und vernichtete Leben in Millionenzahl. Annähernd 60 Millionen Tote liegen auf dem europäischen Trümmerfeld, annähernd 6 Millionen europäische jüdische Leben sind durch eine bestialische Gewalteruption ausgelöscht.

Während sich die Deutschen überwiegend als Kriegsverlierer sehen, fühlen sich Millionen von diesem Terror der NS-Herrschaft endlich befreit. Die Bilder in der Publikation liefern ein Zeugnis des Aufatmens an fast allen Orten. Im KZ-Dachau bejubeln die Überlebenden die US-Amerikaner, Französinnen präsentieren sich glücklich in den Nationalfarben des Landes, ein britischer Zeitungsjunge mit Lebensfreude im Gesicht trägt unter dem Arm das Blatt mit der Titelseite PEACE, Winston Churchill gibt vor einer begeisterten Menge das Ende des Krieges bekannt, in Dänemark fahren Freiheitskämpfer auf ihren Fahrrädern durch die Straßen, der sowjetische Dichter und Leutnant der Roten Armee Jewgeni Dolmatowski läuft im Siegestaumel mit einer Hitler-Büste unterm rechtem Arm durch das zerstörte Berlin.

Nach der Freude stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Während die belgische industrielle Infrastruktur weitgehend intakt ist und der für die Ökonomie wichtige Hafen von Antwerpen nahezu unbeschädigt den Krieg überstanden hat, prägen in fast allen anderen Ländern zerstörte Städte und Ruinenlandschaften das Nachkriegsbild. Insbesondere Polen und die Sowjetunion sind von apokalyptischer Zerstörung betroffen. Inmitten dieses europäischen Trümmerhaufens kämpft die Bevölkerung ums Überleben. Hohe Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Mangelversorgung und Hungersnöte sind Begleiter der Nachkriegszeit. In Polen kommt zudem zu der ökonomischen Krise die des Politischen. Das Fehlen der ermordeten polnischen Eliten, die für den zivilen und kulturellen Wiederaufbau unabdingbar sind, erschwert eine Repolitisierung und eine Reökonomisierung. In einigen Ländern wird der Versuch unternommen, über ideologische Grenzen hinweg, die chaotischen Probleme gemeinsam anzupacken. Unter Ausschaltung des demokratischen Wechselspiels von Regierung und Opposition kommt es zur Bildung parlamentarischer Einheitsfronten wie in der Tschechoslowakei, in Norwegen und Luxemburg.

Die Staaten benötigen Finanzmittel für notwendige Investitionen, um ihre Länder wieder aufzubauen. 1944 haben die drei Alliierten GB, USA und die Sowjetunion in Bretten Woods mit dem System der festen Wechselkurse eine neue Weltordnung zur Stabilisierung und Sicherung des Friedens geschaffen. Bereits im Oktober 1944 bindet das ökonomisch weitgehend intakte Belgien nach einer Währungsreform seinen Franken an den US-Dollar. Das riesige europäische Wiederaufbauprogramm der USA, der Marshallplan, leitet eine neue Struktur der europäischen und wirtschaftspolitischen Verbundenheit auch mit dem besiegten Deutschland ein und schafft die Grundlagen für den modernen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit. Zudem dient der Marshallplan zur Eindämmung des sich ausbreitenden Kommunismus. Die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise haben zu einem massiven Vertrauensverlust in die alteingesessenen Parteien und die bisherige Wirtschaftspolitik geführt. In fast allen Ländern kommt es zu umfassenden Verstaatlichungen des Industrie- und Bankensektors sowie der Landwirtschaft und einer politisch eher sozialistischen Ausrichtung.

Während sich die meisten Länder außenwirtschaftlich den USA annähern und am Marshallplan teilnehmen, orientieren sich die osteuropäischen Länder auf Druck von Stalin Richtung Sowjetunion.
Die außenpolitische Orientierung ist stark von den Vorkriegs- und Nachkriegshandlungen geprägt. Vor dem Hintergrund und den Folgen des Münchner Abkommens orientiert sich die Tschechoslowakei sicherheitspolitisch Richtung Sowjetunion. Die stalinistische Nachkriegspolitik hingegen, forciert insbesondere bei den ehemals neutralen Staaten wie Norwegen, Dänemark und Belgien eine Westblockbindung und den Beitritt zur NATO.

Ist noch das Gemeinsame der Siegermächte die Aufteilung Deutschlands in die Besatzungszonen gewesen, so ist die Teilnahme an den internationalen Organisationen bereits von der ideologisch-bipolaren weltpolitischen Ordnungsvorstellung der Supermächte geprägt. Synonymhaft steht hierfür der Begriff „Kalter Krieg“, der letztlich auch zur Spaltung Deutschlands führt und im Osten die Errichtung von Demokratien durch die Sowjetunion unterbindet. Sich emanzipieren von ihrer Vergangenheit werden sich hingegen - auch unter dem Mantel der neugegründeten UN - die ehemaligen Kolonialreiche von Großbritannien, Frankreich und der Niederlande.

Neben der weltpolitischen Neuausrichtung ist die europäische Nachkriegsära gekennzeichnet von massiven Flüchtlingsströmen. Überlebende der KZs, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, aus den Ostgebieten geflüchtete Deutsche, Zwangsumgesiedelte, Vertriebene. Die Repatriierung gestaltet sich äußerst kompliziert und problematisch. Staatenlose, verschobene Ländergrenzen, Verlust familiärer Bindungen, Antisemitismus, Stigmatisierung als „Vaterlandsverräter“ und Deportierung in die sowjetischen Gulags beeinflussen die Rückführung. Eine Rückführung, die zudem für die schwer traumatisierten jüdischen Überlebenden des Holocaust kaum möglich ist. Sie warten oft jahrelang als Displaced Persons in den Auffanglagern auf eine Emigration. Lager, in denen sie mitunter ihre Täter wieder treffen.

Es fehlt in den Gesellschaften überwiegend an Empathie für die jüdischen Opfer. Das Leiden wird in einen Topf geschmissen. Ob Hungerleiden, Kriegsgefangenschaft oder Holocaust. Die jüdischen Opfer werden kaum benannt. Die Nürnberger Prozesse, die unter anderem Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen, zeigen ein anfängliches Bemühen, die nationalsozialistischen Verbrechen zu ahnden. Sie zeigen aber auch die Erinnerungsabwehr der deutschen Tätergesellschaft. Exemplarisch steht hierfür die Abbildung der „Extraausgabe der Passauer Neuen Presse“ zu den Urteilen im Nürnberger Prozess vom 1. Oktober 1946, die titelt: „Um 14.55 Uhr begann das Nürnberger internationale Tribunal den Schlussstrich unter das letzte Kapitel der Tragödie des Nationalsozialismus zu ziehen.“. Ein Schlussstrich, der mit dem beginnenden Kalten Krieg die juristische Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen und die Entnazifizierung beendet. In vielen Ländern ist die Ahndung der Kollaboration mit dem Feind schärfer als die Verfolgung der Mörder der jüdischen Mitbürger. In den Ländern kommt es zu weitgehenden Begnadigungen und Amnestiegesetzen eindeutig identifizierter Täter des Holocaust. Opfermythen wie im Falle Österreichs und nationale Widerstandsmythen lenken zudem von der Teilhabe an der Vernichtung der europäischen Juden und von einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und Verantwortung ab.

Die Begleitpublikation zur Ausstellung „1945 - Niederlage. Befreiung. Neuanfang. Zwölf Länder Europas nach dem Zweiten Weltkrieg“ ist nicht nur ein Beitrag zur Erinnerungskultur. Sie zeigt, die gewaltige historische Bedeutung des Krieges und des Holocausts und seine nachhaltige Wirkung auf die Folgegenerationen.

Von weltwirtschaftlichen Veränderungen und Steuerungsmechanismen des IWF über eine neue europäische Integrationspolitik wie aktuell am Beispiel der griechischen Krise sichtbar. Von der veränderten Sicherheitspolitik der ehemals neutralen und osteuropäischen Länder, deren aktuelles Sicherheitsbedürfnis nur aus der historischen Deutung zu verstehen ist. Vom bipolaren kalten Frontenkrieg der USA und der Sowjetunion, der in Stellvertreterkriegen ausgefochten wird und dessen vorübergehendes Ende 1990 mit der Ukrainekrise wieder entflammt ist. Von der Losung Wohlstand, Sicherheit und Frieden über die Schaffung von staatlichen Wohlfahrtselementen und Marktwirtschaft im Gegensatz zur Planwirtschaft. Von der Gründung der UN, deren ständige Mitglieder im Sicherheitsrat neben China weiterhin aus den ehemaligen Alliierten bestehen.

In Bezug auf den Umgang und die Auseinandersetzung mit der Teilhabe am Holocaust und mit der eigenen deutschen Geschichte zeigt die Publikation die moralische Leugnung und die Distanzierung von der Täterschaft und Mittäterschaft auf. Eine unmoralische Haltung, die bis heute wirkt und eine kritische Auseinandersetzung weitgehend verhindert und damit mit verantwortlich ist, für eine derzeitige offene Wiederbelegung des europäischen Antisemitismus.

Wirkmächtig sind die beigefügten Bilder. Aufnahmen von Zerstörung, von Freude über das Kriegsende, von Alltagsgegenständen, vom schlichten Alltag, von Wahlplakaten, von Überlebenden.

Das Bild des sowjetischen Dichters und Leutnants der Roten Armee Jewgeni Dolmatowski mit der Hitler-Büste unterm Arm, verkörpert die Befreiung von dem nationalsozialistischen Terror.

Kinder und Erwachsene beim Baden in der Spree und im Hintergrund der zerstörte Reichstag. Eine Aufnahme, die verdeutlicht, inmitten der Zerstörung gibt es einen Alltag, nach der Zerstörung geht es wieder aufwärts. Das wohl eindrücklichste Bild ist das des polnischen Malers Bronisław Linke „El-mole-rachmim“. Seine apokalyptische Darstellung über die Vernichtung des Warschauer Ghettos und die Zerstörung der Stadt versinnbildlichen die Gräuel des Zweiten Weltkriegs und die Vernichtung der europäischen Juden.

Deutsches Historisches Museum, 1945 - Niederlage. Befreiung. Neuanfang. Zwölf Länder Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, Museumsausgabe, 248 Seiten, 150 Abbildungen, Herausgeber: Stiftung Deutsches Historisches Museum, 2015 by Stiftung Deutsches Historisches Museum und by WBG Darmstadt, Theiss Verlag, 19,95 , Museumsausgabe ISBN 9783861021889, Buchhandelsausgabe ISBN 9783806230611

© Soraya Levin