Reden wir über Berlin
Jahr für Jahr treibt es Tausende von Reisenden in die Spree-Metropole. Bewaffnet mit Reiseführern in der Hand oder sitzend in einem der vielen Sightseeing Busse. Eine Sehenswürdigkeit nach der anderen, vorbei am Brandenburger Tor, zum Reichstag und schnell noch zum KaDeWe. Architektur und Geschichte. Aber was ist mit dem Geist der Stadt?
Marlene Dietrich singt „Ich hab noch einen Koffer in Berlin ... die Seligkeiten vergangener Zeiten sie sind alle immer noch in diesem kleinen Koffer drin.“ Wolfgang Feyerabend packt diese Seligkeiten auf seinem literarischen Streifzug durch Berlin aus dem kleinen Koffer aus. In Berlin. Eine literarische Entdeckungsreise schlendern wir Hörer mit ihm Arm in Arm durch die Straßen, über die Plätze zu den Cafés, wo Poeten atmosphärischen Zeitgeist spiegeln. Wir schlendern durch die Straßen einer Stadt, die ständig im Wandel ist, die die Gegenwart und Vergangenheit mit ihren Erinnerungen und ihrer Seele verbindet. Berlin als Romanvorlage, als Filmbühne, als Lebensort.
Alter Westen
Schon Voltaire tauscht im Jahr 1750 die Seine-Metropole gegen das kulturell aufstrebende Berlin ein.
Ein Jahrhundert später spöttelt Heinrich Mann über diese neue bourgeoise Kulturelite Berlins in seinem Roman „Schlaraffenland“.
Auch Walter Benjamin lässt die Bewohner Berlins zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebendig werden. Er erzählt über seine Kindheit in der Wohnung seiner Tante Lehmann Steglitzer Ecke Genthiner. Es ist die Gegend des so genannten honorablen „Alten Westens“, die Gassen und Straßen rund herum um den Nollendorfplatz, durch die das Kind Walter Benjamin läuft.
Der „Alte Westen“ erlebt nochmals seine glanzvollen Jahre in den Goldenen Zwanzigern. An den Tischen der Cafés, der Kneipen, der Restaurants am Nollendorfplatz wimmelt es vor Vergnügungssüchtigen. Schwärmt die Avantgarde ins Theater und ins Carbarett. Treffen sich die Homosexuellen in den Clubs und Bars.
Viele Künstler siedeln sich um den Nollendorfplatz herum an. Wir gehen in die angrenzende Motzstraße. Bleiben vor dem roten Altbau stehen. Tauschen gedanklich „Hotel Sachsenhof“ gegen „Hotel Koschel“ aus. Und sind plötzlich in einer anderen Welt, mittendrin in der Geschichte „Emil und die Detektive“. Sehen Kästners Emil im ehemaligen Hotel Koschel hinter dem Dieb herschleichen. Sehen gedanklich eine der ganz großen deutschen Schriftstellerin. Denn hier im Hotel Koschel hat Else Lasker-Schüler gewohnt. Eine Schriftstellerin, die mit ihrem Wirken die literarische Berliner Luft stark beeinflusst hat. 1933 flieht sie vor den Nazis und geht ins Exil. Der englische Schriftsteller Christopher Isherwood gibt mit seinem Roman „Leb wohl Berlin“ einen guten Einblick in das Weimarer Kulturleben dieser Zeit. „Leb wohl Berlin“ und Isherwoods Roman „Mr. Morris steigt um“ werden die Vorlage für das Weltmusical „Cabaret“.
Und noch ein anderer macht am Nollendorfplatz Berlin zu seiner Bühne. Erwin Piscator. Unter seiner Regie wird das 1905/06 erbaute Theater am Nollendorfplatz Ende der zwanziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts zum Avantgardetheater. Auch Bertolt Brecht nutzt das neue epische Theater für seine Inszenierungen. Aus finanziellen Gründen schließt das Theater, wird nun ausschließliche Filmbühne. Im Mozartsaal läuft in der Uraufführung der Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues“. Die Nazis versuchen die Aufführung zu verhindern, treiben Mäuse in den Filmsaal und werfen Stinkbomben.
Ein weiterer Platz entwickelt sich für die geistige Elite in den 20er Jahren zum beliebten Treffpunkt. Der Potsdamer Platz. Erich Kästner beobachtet das Treiben „Sie stehen verstört am Potsdamer Platz und finden Berlin zu laut. Nacht glüht auf.“
Neuer Westen
Ende des 19. Jahrhunderts wandert die Avantgarde vom „Alten Westen“ in den „Neuen Westen“ Richtung Kurfürstendamm. „Sausende Lichter, Tausend Gesichter blitzen vorbei: Berlin ... „
dichtet Joachim Ringelnatz über das Berlin seiner Zeit.
Über die Glamourwelt und die Einkommensmisere des „Neuen Westens“ zieht Gottfried Benn in „Summa Summarum“ Bilanz. Und über das widersprüchliche Berlin der Weimarer Zeit denkt Gabriele Tergit in ihrem Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ sehr ironisch nach.
Einen Kaffee vielleicht? Wir sind am heutigen Europa Center. Warum nicht einkehren im Romanischen Café, dem einstigen Lokal der Berliner Künstlerelite. Hier haben Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Alfred Döblin, Max Liebermann und viele andere an den Tischen gesessen, Gedanken ausgetauscht und Kontakte zu Verlagen geknüpft.
Die nationalsozialistische Diktatur beendet das Kaffeehausleben. Wolfgang Koeppen blickt in seiner Prosa „Romanisches Café“ zurück: „Wir sahen die Terrasse und das Kaffeehaus weggehen, verschwinden mit seiner Geistesfracht ... und die Gäste des Cafés zerstreuten sich in alle Welt oder wurden gefangen oder wurden getötet oder brachten sich um oder duckten sich und saßen noch im Café bei mäßiger Lektüre und schämten sich der geduldeten Presse und des großen Verrats.“
Paul Erich Marcus 1952 veröffentlichter Roman „Heimweh nach dem Kurfürstendamm“ ist eine Hommage an die einstigen Künstlercafés Berlins wie Café des Westens und Romanisches Café.
Alex – Unter den Linden
Wir gehen immer noch in der Zeit der Goldenen Zwanziger. Sind am Alex, wo das Berliner Leben nur so pulsiert. „Also weeste, die Weiber ... „ hören wir Franz Biberkopf aus Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ sagen.
Am Prenzlauer Berg in der Weißenberger Straße, der heutigen Kollwitzstraße, begegnet uns die Erinnerung an die berühmte Künstlerin Käthe Kollwitz, die erste Frau an der Akademie der Künste.
Nicht weit vom Alexanderplatz liegt das Scheunenviertel, eindrucksvoll skizziert in Joseph Roths Roman "Juden auf Wanderschaft". Das einstige Armenviertel, Wohnort osteuropäischer Juden, hat sich mittlerweile zum Szeneviertel entwickelt.
In Berlin Mitte nähern wir uns der Prachtstraße Unter den Linden. Am Brandenburger Tor das Luxushotel Adlon. Die Gästeliste ist lang. Von Mark Twain, Charlie Chaplin, Gerhard Hauptmann, Thomas Mann könnte man den Finger endlos weiter streifen lassen.
Zwischen dem Brandenburger Tor und der Neuen Wache spazieren wir Unter den Linden wie einst E. T. A. Hoffmann in seiner Novelle „Das öde Haus“ und wie die Autorin Christa Wolf in ihrem Roman „Unter den Linden“. Wir flanieren weiter, ganz in Gedanken, dass Johann Wolfgang von Goethe ein paar Tage in einem Hotel in der Straße „Unter den Linden“ Station gemacht hat, dass Heinrich Mann von der Akademie der Künste aus auf den Boulevard geblickt hat. Wir stoppen an der Humboldt Universität. Hier hat Heinrich Heine während seines Studiums aus einem der Hörsäle auf den Opernplatz gesehen. Hier werden durch die Nazis die Bücher von Bertolt Brecht, Feuchtwanger, Tucholsky, Kästner, Heinrich Mann und vielen andern verbrannt. Hier erfüllt sich Heines Prophezeiung „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“.
Nazidiktatur, Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg, deutsch-deutsche Teilung. Es ist November. November 1989. Der niederländischen Schriftsteller Cees Nooteboom beobachtet den Mauerfall „Jeder versucht auf die hohen Säulen des Brandenburger Tors zu klettern...“. Und wir? Wir reden wieder über Berlin.
Fazit
Auf den acht Spaziergängen durch Berlin erlebt der Hörer eine sich wandelnde Stadt durchdrungen von dem Lebensgefühl der vielseitigen Dichter. Ihr Geist malt das Bild der Zeit. Vom kulturellen Glanz vergangener Künstlerlokale, von Prachtboulevards bis Armenvierteln, von Kindheitserinnerungen in einer aufstrebenden Weltmetropole, bis zur Bücherverbrennung, bis zur zwangsweisen Emigration vieler Kulturschaffender, bis zur Trennung und Wiedervereinigung. Mit Berlin. Eine literarische Entdeckungsreise streift der Hörer durch eine vergangene und gegenwärtige Welt. Eine wahre Schatzkiste, die den Geist der Metropole Berlin spüren lässt.
Berlin. Eine literarische Entdeckungsreise, Wolfgang Feyerabend, auditorium maximum, 1 CD im Digipack, ca. 77 Min., WBG Darmstadt 2009, WBG-Preis EUR 9,90, Verlagsausgabe EUR 12,90, ISBN 978-3-53460019-9
© Soraya Levin