Das Casablanca von Abigail Assor ist nicht das Drehbuch für einen großen Liebesroman. Auch wenn es ebenfalls um eine Frau und einen Mann geht, ist diese nicht Ilsa und er nicht Rick. Was der Film Casablanca aber mit dem Casablanca in So reich wie der König gemein hat, ist der Aspekt der Flucht. Im Film flieht Ilsa vor den Nazis, hier flieht Sarah vor der Armut.
Die 16jährige Französin Sarah schafft sich luxuriöse Inseln im Schatten ihrer Armut. Da, wo sie lebt, glänzt nichts außer das Wellblech der Dächer der heruntergekommenen Hütten. Sie träumt vom Reichtum und von einem Leben im Nobelviertel von Casablanca. Der Weg in eine der Prachtbauten der marokkanischen Eliten ist ein kühnes Angehen und fordert einen hohen Tribut. Im Café sitzen, Panini essen und einen Kaffee nach dem anderen trinken, mit dem Taxi fahren, mit den Reichen kiffen, einfach so zu tun als ob sie dazugehört und eine von ihnen ist. Das alles um den Preis ihres Körpers, der zum Zahlungsmittel wird. Der Spruch, der ihr Süßes auf den Teller bringt, ist „ich liebe dich“.
Der marokkanische Driss ist für Sarah so reich wie der König von Marokko. Sie beschließt, seine Königin zu werden und nimmt Kurs auf die Eroberung dieses sonderlichen und hässlichen Mannes. Sie rückt tatsächlich in seine Nähe vor, verführt diesen Mann, der noch nie eine Frau geküsst hat, schläft mit ihm und lässt sich dafür beschenken. Die Armutslaute wie die Unterdrückung rücken in seiner Umgebung zunächst scheinbar in weite Ferne und wirken wie ein Zukunftsversprechen. Ein Zukunftsversprechen, das durch ihre Schwangerschaft bedroht wird. Denn auch wenn Driss bereit ist, sie zu seiner Frau zu nehmen, ist es seine Familie nicht. Sarah ist wie ein Skorpion, den man sich vom Leibe halten muss. Geheiratet werden nur ehrbare zu der Familie vom Stand her passende Frauen.
Im Roman wird dieses tradierte Muster beim Aufeinandertreffen von Sarah und der Mutter von Driss während des Opferfestes deutlich. Eigentlich geht es beim islamischen Opferfest auch um Barmherzigkeit. Diese endet jedoch dort, wo unterschiedliche Gesellschaftsschichten aufeinandertreffen. Der zur marokkanischen Elite gehörende Driss darf nicht eine arme Französin heiraten. Sogar das in Sarah heranwachsende Enkelkind muss dafür geopfert werden. Dieses Spiel muss mitgespielt werden. Ansonsten droht der Absturz für Driss in die Armut.
Driss spielt aber lieber das Kartenspiel 1000 Meilen. Im übertragenen Sinne deutet diese Vorliebe von Driss darauf hin, dass in Casablanca ebenfalls dieses Spiel gespielt wird. Bei 1000 Meilen startet man mit einer sogenannten Fahren-Karte. In Casablanca auf jeden Fall mit einer Geld-Karte. Denn vererbt wird in dieser konstitutionellen Erbmonarchie immer das Geld, das den König sowie die anderen Eliten immer reicher macht.
Driss Augen sind für Sarah wie Thymian. Thymian ist bekannt dafür, dass er gegen Erkältungen und andere Erkrankungen hilft. Hier könnte man sagen, er hilft gegen die Erkrankung der Armut. Eine Armut, die ganz besonders hart wie die Autorin zeigt, die Frauen trifft. Ihre soziale Stellung in der marokkanischen Gesellschaft ist nicht gleichberechtigt. Nicht bei den Privilegierten, die auch Schläge ihrer Männer einstecken müssen und schon gar nicht bei den von Armut gebeutelten Frauen. Abigail Assor verdeutlicht diesen Umstand an der Mutter von Sarah. Sie muss sich nicht nur prostituieren, sondern hat auch die Schläge ihrer Freier hinzunehmen.
Auch an anderer Stelle zeigt die Autorin die Macht der Männer auf. Geben sich die Frauen ihnen hin, werden sie als Nutten beschimpft. Sind sie keine Jungfrauen mehr, werden sie nicht geheiratet. Küssen sie sich mit einem Mann in der Öffentlichkeit wie Sarah und Driss es tun, taucht die männliche Sittenpolizei auf. Männer als die moralische Instanz, die es mit der eigenen Moral jedoch wie Abigail Assor aufzeigt, nicht so genau nehmen. So werden insbesondere in den Haushalten der Reichen wie bei Driss gern die weiblichen Hausbediensteten körperlich wie Gegenstände benutzt. Eine dominierende Männerclique, die auch eine eventuelle Schwangerschaft der Frauen je nach Bedarf beseitigen lässt. Wo bereits Jungen Frauen betatschen und Männer ihnen obszöne Sprüche entgegenwerfen.
Deutlich wird an Assors Schilderung, dass es allein nicht reicht, die Gleichberechtigung auf politischer Ebene zu formulieren. In Marokko ist sie bis heute nicht erreicht. Gleichberechtigung beginnt nicht auf dem Papier, sondern in den Köpfen. Durch gleichberechtigte Sozialisationsprozesse verankert sie sich in den Identitäten und schafft so neue Muster, die auf politische Ebene fixiert werden können.
Aber es geht nicht nur um die Gleichberechtigung, sondern auch um Korruption. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen religiösen oder einen moralischen Wert handelt. Driss und Sarah entgehen im Roman ihrer Strafe für ihr öffentliches Küssen durch eine Geldzahlung an die Sittenpolizei. Im Roman lässt die Autorin Sarah sagen, dass sie und Driss das Gesetz seien. Mit dieser Aussage verdeutlicht sie den weiter durchgängigen Filz in der marokkanischen Gesellschaft.
Das System ist von innen her morsch. Die Korruption frisst sich bis heute ungehindert durch die marokkanische Gesellschaft und belohnt eine kleine Elite und straft die große Masse ab. Im Roman wird dieses besonders sichtbar an der mangelhaften Gesundheitsversorgung von Sarahs Mutter sowie an den Straßenverkäufern, die keine Zähne haben.
Casablanca, dieser pulsierende Ort mit einem fruchtbaren Boden für die Reichen, führt dazu, dass der Boden der Armen weiter austrocknet. Die Hierarchien weisen ein hohes Machtgefälle auf. Im ehemaligen französischen Protektorat hat man seit der Unabhängigkeit im Jahr 1956 den Weg in eine bürgerliche Gesellschaftsstruktur westlichen Musters nicht geschafft. Vielmehr festigt sich eher eine Art Ständegesellschaft, die zusätzlich noch tradierte religiöse Muster beinhaltet. Dem kosmopolitischen Lebensstil der marokkanischen Eliten wirkt diametral das Festhalten an tradierten Werten und der die Gesellschaft bestimmende Islam entgegen.
Unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem König für seine umfangreichen Reformen beglückwünscht. Die Reformen haben aber die Armen nicht mitgenommen, sondern die Armut verbreitert. Notwendige Reformen wie im Bildungssektor sind bislang gescheitert. Dieses verdeutlicht Abigail Assor in ihrem Roman an dem französischen Gymnasium, auf das Sarah geht. Eigentlich wird dieses Gymnasium nur von den Kindern der Reichen besucht. Die weniger Betuchten bleiben bildungsmäßig weitgehend auf der Strecke.
Abigail Assor schreibt mit leichtem und fast jugendlichem Stil und gibt ihrem Roman wie auch im Film Casablanca eine politische Seite. Casablanca, die pulsierende Stadt am Atlantischen Ozean, bedeutet übersetzt weißes Haus. In einem weißen Haus ist es klimatisch gesehen für die Bewohner angenehm. Hier, in der Realität, gilt diese Regelung jedoch nur für einen kleinen Teil der Bewohner, für die Reichen.
Abigail Assor, So reich wie der König, Roman, Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Aussi riche que le roi bei Éditions Gallimard, Paris, Aus dem Französischen von Nicola Denis, Insel Verlag Berlin 2022, Erste Auflage 2022, Fester Einband mit Schutzumschlag, 224 Seiten, 23,00 € (D), 23,70 € (A), 32,90 Fr. (CH), ISBN 978-3-458-64284-8
© Soraya Levin