Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses. Die Geschichte einer großen Liebe und ihres Verrats zur Zeit des spanischen Bürgerkriegs und der folgenden Franco Diktatur, erzählt von dem katalanischen Autor Jaume Cabré.

In der alten abbruchreifen Schule von Torena findet die Lehrerin Tina Bros auf der Suche nach Material für eine Schulausstellung hinter einer Wandtafel versteckt die geheimen Tagebuchaufzeichnungen eines gewissen Oriol Fontelles. Der Blick zurück in die unheilvolle Vergangenheit Fontelles weckt Tinas Interesse an dem Leben des Fremden. Doch die Frage, was im Oktober 1944 tatsächlich passiert ist, wird für Tina Bros zur tödlichen Gefahr.

Sechzig Jahre zuvor, zur Zeit der Franco Diktatur, in einem kleinen Dorf namens Torena. Die einflussreiche und eiskalte Elisanda Vilabrú fordert Vergeltung für die Ermordung ihres Vaters und Bruders durch die Anarchisten während des Bürgerkriegs. Ihr "Henker von Torena" wird der Faschist und zukünftige Bürgermeister Valenti Targa.
Oriol Fontelles kommt in Begleitung seiner schwangeren Frau Rosa als neuer Dorfschullehrer nach Torena. Von dem faschistischen Bürgermeister wird er gezwungen, sich ihm unterzuordnen. Faschistischer Terror und Gewalt bestimmen den Alltag in Torena und - das Dorf schweigt. Auch Fontelles Frau Rosa hat zulange geschwiegen, ..."Sie hatte die Gefahr nicht kommen sehen und nun wurde in Torena seit über vier Monaten Tag für Tag geschwiegen, darüber, daß von Zeit zu Zeit schwarze Wagen vorfuhren und weinende Männer zum Hang von Sebastià brachten..."

Als Oriol Fontelles in die Falange eintritt und ein Kind ermordet wird, verlässt ihn seine Frau Rosa. Die einflussreiche Elisanda und Oriol entwickeln eine tiefe Zuneigung und Liebe füreinander. Doch diese Liebe ist nicht bedingungslos. Denn als Oriol die Seiten wechselt und Widerstand leistet, verrät sie ihn an ihren "Henker von Torena".
Das Leben hat ihr den einzigen je geliebten Mann versagt. Jahrzehntelang kämpft sie nun für seine Seligsprechung, letztlich nimmt sie sogar die Hilfe der so genannten „Heiligen Mafia“, des Opus Dei in Anspruch.

Die Stimmen des Flusses von Jaume Cabré. Eine Erzählung über Liebe, Verbrechen und Schuld, die den Anstoß für die Gedanken zum Krieg, zum Faschismus und zur moralischen Verantwortung gibt.

Jaume Cabré stellt seinem Roman ein Zitat des französisch-jüdischen Philosophen Vladimir Jankélévitch voran "Vater, vergib ihnen nicht, denn sie wissen, was sie tun." Und noch über Generationen hinweg wirken die Folgen ihres Tuns, die Folgen des Spanischen Bürgerkriegs und der Franco Diktatur. "Eine böse Geschichte. Fast sechzig Jahre her, und die Wunde ist immer noch nicht verheilt." sagt der Steinmetz Jaume Serrallac zu der Lehrerin Tina Bros. Ihre Recherchen über das Leben des Dorfschullehrers Oriol Fontelles nehmen den Leser mit in die sechzig Jahre zurückliegende Vergangenheit in das kleine spanische Dorf Torena. Torena, wo ein faschistischer Bürgermeister den Bewohnern das Leben wahrlich zur Hölle macht, wo sadistische Freude und Rohheit ein Kinderleben auslöscht, wo bloßes Erleiden die Seele vergiftet und sprachlos macht. Torena, wo Menschen wie "Du und Ich" sehen und schweigen. Und als Tina Bros "...die ärmliche Wohnküche der Venturas betrat, stand eine dunkel gekleidete Frau mit schütterem weißem Haar vor ihr auf einen Stock gestützt. Ihr Blick war vom Haß und Schweigen vieler Jahre ebenso durchdringt wie der ihrer Tochter."

Die Angst des Dorfschullehrers Oriol Fontelles lässt ihn mit den Faschisten kollaborieren. Cabrés tiefes Charakterbild Fontelles zeigt, dass erst die persönliche Betroffenheit durch den Verlust der eigenen Familie zur Gehorsamsverweigerung und zum Widerstand gegenüber der faschistischen Autorität des Bürgermeisters führt. "Ich bin kein Faschist Rosa, nur ein Angsthase, aber jetzt versuche ich es in Ordnung zu bringen..."

Die Liebe zu der eiskalten von Rachsucht zerfressenden Elisanda Vilabrú zerbricht in dem Moment, wo Fontelles seinen Anstand über die Unmenschlichkeit stellt.
Mit der erzwungenen Seligsprechung Fontelles legt Elisanda Vilabrú ein Tuch über die Schuld für ihren Verrat.

Cabrés Roman hat universellen Wert. Denn im November 2007 legt die katholische Kirche mit Papst Benedikt XVI mit ihrer Seligsprechung von fast 500 so genannten „Märtyrern“, die im Spanischen Bürgerkrieg Opfer der „Linken“ waren, ebenfalls ein Tuch über ihre Schuld. In dem die katholische Kirche sich unkritisch mit "lediglich nur einem Opferteil" identifiziert macht sie, die bereits 1936 die Franco-Bewegung unterstützte, deutlich, dass sie sich ihrer Mitverantwortung für die kriegerische Barbarei scheinbar bis heute nicht bewusst ist.

Und erstmals im November 2007 wird das Franco Regime offiziell seitens der Spanischen Regierung verurteilt, erstmals erhalten die Opfer des Spanischen Bürgerkriegs und der folgenden Franco Diktatur eine Entschädigung, erstmals befreit man sich von den Insignien der Franco Diktatur.

In Cabrés Geschichte befreit die Zeit zwar auch vom Faschismus aber nicht vom Hass. Tiefe Charakterbilder und eine atmosphärisch dialogreiche Sprache lassen Cabrés Figuren zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit lebendig werden. Brillant versteht Jaume Cabré es, den Widerspruch zwischen Leidenschaft und Gewalt darzustellen. Ein Blick in die menschlichen Abgründe aber auch in die menschliche Stärke.
Ein tiefgreifend, glanzvoller bedeutender Roman, der zeigt wie gefährdet und gallenbitter das Menschsein ist.

Jaume Cabré, Die Stimmen des Flusses, Roman, aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt, die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel „Les veusdel Pamano“ im Verlag Proa, Insel Verlag .2007, 666 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-458-17363-2, Euro 22,80 [D] / Euro 23,50 [A] / sFr 39.20

© Soraya Levin