Der Fall Eduard Einstein

Den Nobelpreis der Physik für Albert Einstein und für seinen jüngsten Sohn Eduard die Klapsmühle. Er ist 20 Jahre alt als sich im Jahr 1930 die Türen des Burghölzli hinter ihm für Jahrzehnte schließen.

Für den Vater Albert Einstein ist die Schweizer Psychiatrie Burghölzli kein unbekannter Ort. Die hier im Verborgenen leben, die hat er als Student aufgesucht. Heute besucht er seinen schizophrenen Sohn, der in eine seltsame Welt entrückt ist. Eduard ist wie ein Schiffbruch. Er ist seelisch in Not geraten und gekentert. Der Vater, das Genie, gibt ihn auf und rettet sich, indem er die Verbindung für immer abbricht. Ein letztes Mal die Nähe des anderen spüren, ein letztes Mal sich sehen und gemeinsam musizieren. Ein letztes Mal sich gegenseitig traurigen Respekt zollen. Dieses letzte Mal ist im Jahr 1933. Albert Einstein ist nicht nur familiär in schwerer See. Von den Nazis gejagt und entrechtet emigriert er in die USA. Albert und Eduard Einstein. Zwei wehrlose verletzte Seelen. Zwei Hassende. Der eine hasst das deutsche Volk, der andere seinen Vater.

Und Mileva, Eduards Mutter und die Exfrau des Genies? Auch sie hasst Albert Einstein. Selbstlos hat sie seiner Karriere zuliebe nicht nur ihr Studium abgebrochen, sondern ihr gemeinsames uneheliches Kind geopfert. Eine Schuld, mit der sie sich ihr Leben lang geißelt. Ihre Familie ist zerbrochen, die Ehe geschieden, ihr ältester Sohn in die USA emigriert und sie? Sie bleibt mit Eduard allein zurück und reibt sich in ihrer Fürsorge und Suche nach Heilung für ihn auf. Ihr Leben schlingert zwischen der Züricher Huttenstraße 62 und dem Burghölzli hin und her. Sie kümmert sich, sie hütet, sie bewacht und sie betreut Eduard und je mehr sie mit seiner Krankheit ringt, desto mehr entfärbt sich ihr Leben. Aufgerieben verstirbt sie entkräftet und hinterlässt einen einsamen im Zwinger Burgölzli gefangenen Eduard.

Laurent Seksik verdeutlicht diese familiäre Entwicklung, in dem er nicht nur den psychisch erkrankten Eduard Einstein zum Erzählgegenstand macht. Sein Blick richtet sich gezielt auf die mit ihm verwobenen Charaktere. Die unterschiedlich gewählten Erzählperspektiven führen das lose Bündel von Erklärungsmustern zusammen und beleuchten die privaten und sozialen Bruchstellen der Familie Einstein.

Eduard der Ich-Erzähler ermöglicht dem Leser einen tiefen Blick in sein inneres Chaos. Er ist Einsteins Sohn, der Sohn eines Genies und neben einem Genie bleibt kein Raum. Er möchte ein anderer sein und doch wieder Einsteins Sohn. Er sucht nach Anerkennung vom Vater. Er ist belesen, dichtet und musiziert und doch bleibt er nur der verborgene Sohn eines Genies mit dem wuchtigen Ballast des Namens Einstein. Diese Wucht katapultiert ihn schließlich nach Burghölzli. Hier rauben sie ihm seine Gefühle, sein Denken, letztlich seine Freiheit. Unter dem Deckmantel der Diagnose Schizophrenie wird er zum Opfer menschenverachtender Versuche und Handlungen. Insulinschocktherapien, Elektroschocks, Schläge und die Zwangsjacke bestimmen seinen Alltag.

Albert Einstein, das Genie und ein psychisch kranker Sohn? Es bleibt unklar, welches die begünstigenden Faktoren für den Ausbruch Eduards Erkrankung gewesen sind. Albert Einstein zieht es zwar in Betracht, dass seine Trennung von der Familie ein auslösendes Moment gewesen ist, jedoch begehrt er gegen diesen Gedanken und seine eigene Verantwortung auf. Er sucht nach einer Erklärung und findet seine Exfrau Mileva und ihre kranken Gene. Schämt sich das Genie vor dem nicht idealen Sohn? Oder wackelt sein Ursache-Wirkungsturm? Oder ist es die Angst vor den Schlagzeilen einer Umwelt, die Geisteskranke als Irre bezeichnet und das Genie damit diskreditiert? Während sich der Vater zum Fürsprecher der Farbigen in den USA entwickelt, lässt er seinen entrechteten und seelisch kranken Sohn Eduard fallen.

Ist es die Flucht vor der nicht zu ertragenden Wahrheit, die ihn jede Brücke abbauen lässt, die seinen Sohn Eduard zum größten Desaster seines Lebens macht. Ob die Verfolgung durch die Gestapo oder durch McCarthy, Eduards Schizophrenie wiegt schlimmer. Vielleicht ist es die Hilflosigkeit eines Genies vor einem nicht zu lösenden Problem, die Eduard im Schatten Burghölzli verkümmern lässt.

Vieles bleibt Spekulation. Nicht jedoch die fehlende Anerkennung, nach der sich Eduard so sehnt.
Mit dem Tod des Vaters und einem Rückblick auf ein letztes Vater und Sohn zeigendes Foto wird Eduard von seinem Hass auf den Vater erlöst. Jetzt ist sie sichtbar, diese so ersehnte Wertschätzung. Albert Einstein hat zum Abschied seinen besten Zwirn angezogen und Eduard damit Respekt gezollt.
Er, Eduard, ist in Vergessenheit geraten. Albert Einstein und seine Relativitätstheorie nicht.

Ein starker Schriftsteller dieser Laurent Seksik, der das Fiasko der Einsteins mit großer Sprachkraft aufzeigt. Ihm gelingt es, Eduard Einstein aus dem Schattendasein herauszuholen.

Laurent Seksik, Der Fall Eduard Einstein, Roman, Originaltitel: Le cas Eduard Einstein, Originalverlag: Flammarion, Aus dem Französischen von Hanna van Laak, Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 336 Seiten, 12,5 x 20,0 cm, 1 s/w Abbildung, Karl Blessing Verlag, München 2014, ISBN: 978-3-89667-520-0, 18,99 [D] | 19,60 [A] | CHF 27,50 * (* empf. VK-Preis)

© Soraya Levin