Ich werde das Land durchwandern, das Du bist

Sie sind wie beschriebene Blätter, die sich gegenseitig zwischen den Zeilen und den Wörtern entdecken wollen. Sie sind zwei Liebende, zwei mit einer großen Leidenschaft für das Schreiben, zwei, die aus dem schweizerischen Wallis stammen. Sie ist die Schriftstellerin S. Corinna Bille und er der Schriftsteller Maurice Chappaz.

Es ist kein gewöhnliches Schriftstellerpaar, das sich zu Beginn der 1940er Jahre ineinander verliebt. Um diese Liebe zu verstehen, können wir einen Einblick in ihre intimsten und persönlichsten Wortpfade nehmen, die sie in unzähligen Briefen gegangen sind. 

Ich werde das Land durchwandern, das Du bist gibt in der deutschsprachigen Version einen kleinen Einblick in das große Orchester der Liebe des Schriftstellerpaares und ihrer Lebenswelten. 
Das Vorwort mit einem biografischen Ausschnitt gibt bereits diesen Gefühlscocktail wieder und zieht den Leser magisch in Richtung der Briefe, die in drei Lebensbereiche gegliedert sind. Es ist eine Zeitreise von dem Jahr 1942, in dem ihre einzigartige und geheimnisvolle Liebe beginnt, bis zum Jahr 1979, dem Todesjahr von S. Corinna Bille.  

Eine Zeitreise, die mit großen Gefühlen und der Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Freiheit einhergeht. Eine Zeitreise, die sie beide gelegentlich an ihrer Kunst der Poesie zweifeln lässt, aber nur sehr vage - wenn überhaupt - an ihrer Liebe, die wie ein Bollwerk zu sein scheint. 
Eine Zeitreise, die das Leben im Wallis und den Krieg mit einbezieht, die die gesellschaftliche tradierte Atmosphäre der Jahre vermittelt, die die sozialen Probleme der Unterkunft, der Geldnöte und die teilweisen Widerstände der Familie gegen die Beziehung spüren lässt. Eine Atmosphäre, die der liebevollen Atmosphäre der Briefe entgegenwirkt. 

Sie „…sah sein Foto und liebte ihn fürs Leben.“ und er liebte sie, da sie das verkörperte, was er sich von Freiheit und Selbstbestimmung vorstellte. Diese Frau ist verheiratet und noch nicht geschieden. Diese Frau ist trotzdem wieder in neuer Partnerschaft. Diese Frau hat es bereits geschafft, etwas von ihr zu veröffentlichen. Diese Frau namens S. Corinna Bille entspricht nicht den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit und nicht dem Gesellschaftsideal des katholischen Wallis. Diese Frau weiß, was sie will. 

Diese Vorstellung von Autonomie und ihre Liebe im Zentrum ist das Band, was sie zusammenhält. Die anfänglichen geheimen Treffen an sicheren Rückzugsorten aus dieser für sie beide schrankenbehafteten Welt verdeutlichen von Anfang an, dass es sich hierbei nicht nur um Romantik oder eine Obsession handelt. Hier betritt einer das Land des anderen und verfängt sich in dem Duft der gegenseitigen Liebe, der durch seine Intensität sogar Angst macht.

Es ist auch eine geistige Liebe, wo sich beide in ihrer schriftstellerischen Arbeit unterstützten und sich gemeinsam ihre literarischen Welten erschließen. Wo Manuskripte gelesen werden, wo Verbundenheit und Leidenschaft sich allein durch die gewählten Worte entwickeln, wo Verlage gesucht werden, wo ein kritisches Wort fällt, wo ein Gedichtband von ihm zum Glück für sie wird.

Sie träumen von einer Zukunft, vom Schreiben und doch möchten sie frei sein. Eine Freiheit, die Maurice als Offizier beim Militär vermisst, eine Freiheit, die anderen an den Grenzen und in Lagern verwehrt wird, eine Freiheit, die selbst das erste gemeinsame Kind verschweigen muss. Eine Freiheit, die durch die katholische Kirche zunächst verhindert wird. Eine Freiheit, in der sie dennoch geliebt werden wollen. 

Ihre Liebe ist kein Selbstzweck. Selbst dann nicht als sie verheiratet sind und drei Kinder haben. Ihre Liebe ist letztendlich das Bewusstsein für die schöpferische Freiheit des anderen. Eine Freiheit, die sie oft von Ort zu Ort ziehen lässt. Mal gemeinsam, mal allein. Eine Freiheit, die dem Partner Raum und Refugien gibt. 

Immer wieder tauchen in den Briefen die Natur und die Berge auf, die mit überquellenden Sinneseindrücken als Glück und Ruhepol beschrieben werden. In den späteren Jahren sind es eindringliche Wüsten- und Oasenbeschreibungen in Afrika und Afghanistan. 

Liebe ist das Gerüst ihrer Zweisamkeit, das selbst den widrigen immer wieder sich einstellenden Geldsorgen entgegenwirkt. Ein Gerüst, das sie Zeit alleine verbringen lässt, ohne einzustürzen.
Es ist die Art ihrer Liebe und die Fähigkeit dazu, dem anderen gerecht zu werden. Nicht durch Selbstaufgabe oder Auflösung des anderen in der eigenen Person, sondern wie der französische Philosoph Alain Badiou es nennt, schaffen sie sich eine „Bühne der Zwei“. Jeder von ihnen beiden kann also mit seiner Freiheit, Unabhängigkeit, seinem Wunsch nach dem Schreiben existieren, ohne dass ihre Liebe dem nicht standhalten kann und sich zersetzt.

Es ist mehr wie Fairness wenn sie sich gegenseitig diese Räume geben. Es ist das spezielle Liebesgeflecht, in dem sie sich gemeinsam eine literarische und unabhängige Welt erschließen. Gerade ihre Liebe ist der Türöffner und die Chance für ihre Sehnsucht nach Freiheit. Sie haben sich auf diese Liebe eingelassen. Einer Liebe, die dem Tod standhalten kann und die keine Überreste lässt, denn Maurice Chappaz veröffentlicht nach dem Tod von S. Corinna Bille noch unzählige Werke von ihr.

Ich werde das Land durchwandern, das Du bist ist mehr wie ein Buch mit einem biografischen Vorwort und Fotografien des Schriftstellerpaares. Auch mehr wie die gut strukturierte Zeitleiste sowie das Werkverzeichnis und die sehr sinnvollen erklärenden Anmerkungen in den einzelnen Briefabschnitten. 

Es ist mehr wie ein Einblick in die Intimitäten von zwei Personen, die sich lieben. Es zeigt die große Leidenschaft für das Schreiben, die Ängste erfolglos zu sein, dem Schriftstellerdasein nicht zu genügen, frei sein zu wollen und doch zu lieben, unabhängig sein zu wollen und doch geliebt zu werden. Allein sein zu wollen und sich dabei ständig nach dem anderen zu sehnen, nicht mehr leben zu wollen, weil das, was man miteinander spürt so unfassbar ist. Er träumte wie Jaufré Rudel von seiner Prinzessin von Tripolis und wurde zu ihrem Prinzen von Bali. Nicht er stirbt in den Armen seiner Prinzessin, sondern sie in seinem Beisein.

S. Corinna Bille, Maurice Chappaz, Ich werde das Land durchwandern, das Du bist, Briefwechsel 1942-1979, Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Lis Künzli, 1. Auflage 2019 Edition Blau, Belletristik im Rotpunktverlag (Originalausgabe: 2016 unter dem Titel Jours fastes, Editions Zoé, Genf), ISBN 978-3-85869-830-8, EUR 34

© Soraya Levin