Anne Dorns Sprachstil beeindruckt mit den tiefen Wortbildern, die lebensnah und fühlbar sind. Eine in sich formvollendete Prosa, die zeigt wie der schwierige Weg der deutsch-polnischen Verständigung gelingen kann.

Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges macht sich die 75-jährige Martha Lenders im Jahr 2000 auf die Suche nach ihrem in Polen vermissten Bruder Johannes.
1944 im Dezember. Noch ahnt Marthas Familie nicht, dass es die letzte Silvesternacht mit Johannes ist. Anfang Januar 1945 wird der gerade mal 16-Jährige zum Reichsarbeitsdienst Warthegau Ost einberufen und nach Adelnau südöstlich von Posen verschickt. Seitdem fehlt jede Spur von ihm. Die in Dresden lebende Familie unternimmt nach dem Krieg zahlreiche Versuche, das Schicksal von Johannes aufzuklären. Die jahrelangen Nachforschungen bleiben ohne Erfolg. Martha Lenders, die unterdessen in Koblenz lebt, lernt in einer Bibliothek den polnischen Historiker Jaworski kennen. Ihre Unterhaltungen über die Kriegswirren lässt den tief in Martha vergrabenen und für tot erklärten Bruder Johannes wieder lebendig werden. Sie entschließt sich die eingestellten Recherchen über den Verbleib des Bruders vor Ort in Polen fortzusetzen. Im Gepäck die Zeugnisse der Suchanfragen mit dem immer wieder kehrenden Hinweis auf ein Dorf namens Siehdichum. Auf der Suche nach diesem Ort durchkämmt und wühlt sich Martha durch Gegenden, wo Johannes vielleicht seine letzten Stunden verbracht hat.

Marthas Reise durch Polen wird für sie zu einer Reise in die Vergangenheit. Das Gesicht Polens mit den Wäldern, den Seen und den Orten lässt die alte sächsische Heimat aufleben. Es sind die Erinnerungen an die Eltern, an die gemeinsamen Ausflüge in die angrenzenden Wälder mit Johannes. Die Erinnerung an den Geruch des Waldbodens, an die Freude, die dieser lebhafte Bruder dabei empfand. Doch da sind noch andere Bilder, die Martha schrittweise begleiten, die ihr Schmerz zu fügen. Johannes, der hier in Polen vielleicht irgendwo im Wald verscharrt liegt. Doch in welchem Wald? Ist es der, den sie aus dem Zugabteil sieht oder der, durch den sie geht? Johannes, vielleicht erfroren oder auf seiner Flucht erschossen. Martha lässt nichts unversucht. Auf ihrer Suche begegnet sie Menschen, die Verständnis zeigen und ihr behilflich sind. Da ist der Historiker aus Warschau, dessen Bruder irgendwo in den Strassen während des Aufstandes im Warschauer Ghetto erschossen wurde, da ist Henryk aus Posen, der Filme dreht, der als Kind im Lager war. Und da ist Ewa, eine Germanistikstudentin, die für Martha dolmetscht.

Siehdichum wird nie gefunden. Doch am Ende ihrer langen Suche wird der Ort gegenwärtig bleiben. Denn er baut eine Brücke zwischen den Polen und ihr, der Deutschen.

Es ist ein Bekenntnis ihres eigenen Lebens, das Anne Dorn in ihrem Roman Siehdichum einwebt. Ungewisse Kriegsschicksale im Westen wie im Osten, die durch den Eisernen Vorhang existent bleiben. Ein schweres Erbe für die Angehörigen, die nie wirklich frei sein können. Anne Dorns Protagonistin verbirgt diese Ungewissheit tief in ihrem Innern. Erst die Öffnung nach Osten und die verständnisvolle Hilfe in Polen lassen den Bruder Johannes wieder lebendig werden und geben Hoffnung, den Verbleib zu klären. Aus Angst diesen feinen Faden der deutsch-polnischen Verständigung zu zerreißen, führt Martha mit Hendryk stumme Zwiegespräche, schließen sie und der polnische Historiker ihren Schmerz in sich ein. Erst Siehdichum öffnet sie, lässt sie einander betrachten und das Schicksal des jeweils anderen mit zum eigenen werden. Es sind die Brüder, die sie nie aufgrund des Kriegswahns kennengelernt haben. Da ist die Schuld, weil sie, die älteren Geschwister, nichts gegen den Krieg und für die Vernunft taten. Da ist das normale Leben wiedergekehrt. Da sind die nie verheilten Wunden. Da ist das Bedürfnis sich sechs Millionen Mal zu entschuldigen.
Mit den Zwischenberichten von der Abteilung 3/401 des Reichsarbeitsdienstes gibt Anne Dorn ein Zeugnis des Krieges wider. Die verängstigten und panischen Jugendlichen, die dem Gemetzel zum Fraß vorgeworfen werden. Der Zustand völliger Lähmung unter Maschinengewehrsalven und Kanonendonner. Das Geräusch von Panzerketten über Körper. Ausharren bis zum Erfrieren. Die Flucht und dann der Tod. Nichts Heroisches. Nur Leiden. Der Wald als Quelle des Lebens wird zum Massengrab.

Anne Dorn, Siehdichum, Roman, gebunden, 312 Seiten, Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2007, ISBN: 9783937717241, 22,80

© Soraya Levin