„Hier ist die Nacht tief und schwarz wie die Welt“. Gleich mit diesem ersten Satz macht der französische Autor Olivier Adam in seinem Roman „Klippen“ auf die Gefühlswelt seines Ich-Erzählers aufmerksam.

Der 31-jährige Erzähler kommt seit Jahren in das französische Seebad Étretat, an den Ort, wo seine Mutter vor 20 Jahren von den steilen Klippen in den Tod sprang.
Die Zeit heilt nicht immer alle Wunden, so ist es auch bei unserem Erzähler, der sich trotz seiner neuen Rolle als Vater und Ehemann nicht von seinem Kindheitstrauma lösen kann. Die Erinnerung an seine Mutter zieht sich wie eine tiefe Spur durch sein Inneres und lässt ihn auch diese Nacht auf dem Balkon seines Hotelzimmers verbringen, den Blick zu den Steilklippen und in die Vergangenheit gerichtet. Immer auf der Suche nach seiner Kindheit, die mit dem Tod der Mutter nicht nur endet sondern für ihn gelöscht ist. In seiner Rückschau ist kein Platz für ein freudiges Familienleben. Wie eine Fremde betrachtet er seine Mutter auf den alten Filmen, wenn sie lacht und lebhaft durch das Bild läuft. Denn in seiner Erinnerung gibt es nur eine ermattete, tief traurige und weinende Frau. Eine Mutter, deren Ruhelosigkeit sie schließlich in den Tod treibt. Ein böser Traum aus dem sein Bruder Antoine und er zu erwachen hoffen. Und neben dem Kampf mit sich selbst, den Tod der Mutter nicht wahrhaben zu wollen, sind sie den Schikanen des unberechenbaren, brutalen Vaters ausgesetzt. Sie dürfen nicht klagen, nicht weinen, nicht das Wort „Mutter“ sagen, sie dürfen nicht Kind sein, sie dürfen nicht existieren.

Antoine probt den Aufstand mit Gewalt, Drogen und Alkohol. Der Erzähler und sein Bruder klammern sich immer enger aneinander. Sie geben sich allen erdenklichen Ausschweifungen hin. Mit alkoholischen und sexuellen Exzessen verabschieden sie sich von der Realität. Als Antoine eines Nachts plötzlich abhaut, ist es der Beginn der Lösung ihrer engen Bindung.

Auch unser Ich-Erzähler träumt davon, ein anderes Leben zu beginnen. Er verlässt sein Zuhaus. Doch es gelingt ihm nicht, sich von dem Schmerz des Verlustes der Mutter zu lösen. Immer und immer wieder tauchen ihre Spuren in den Gesichtern fremder Frauen auf. Er ertränkt die mütterlichen Trugbilder in Alkohol und bewegt sich immer mehr am körperlichen Abgrund entlang. Nur durch die Hilfe seiner Frau Claire rappelt er sich wieder auf.

Und in den wenigen alten sprachlosen Familienfotos versucht er in den Gesichtern seiner Eltern ein Stück Liebe und Zärtlichkeit zu sehen.

Olivier Adam zeichnet mit seinem Roman „Klippen“ eine hervorragende psychologische Skizze über den Umgang mit dem Schmerz des Verlustes und der bleibenden Trauer. Bewegend lässt Adam den Leser die Wucht nachempfinden, mit der sein Ich-Erzähler vom Selbstmord der depressiven Mutter getroffen wird. Eine Wucht, die so heftig ist, dass sie die Kindheit auslöscht.

Ein tiefgreifender, spürbar sensibler und bedeutender Roman, der zeigt, welche schmerzhaften Spuren, welche tiefe innere Leere der Verlust eines Menschen hinterlässt.

Klippen, Olivier Adam, Roman, Titel der Originalausgabe: Falaises, Aus dem Französischenvon Carina von Enzenberg, Umschlagmotiv: Elger Esser, La Manne-Porte, SchirmerGraf Verlag, München 2008, 240 Seiten, 17,80, ISBN 978-3-86555-051-4

© Soraya Levin