Eine lange Flucht aus Ostpreußen

In der deutschen Provinz Ostpreußen mit ihren sandigen endlosen Stränden, ihren Weiten, ihren Wäldern und Seen lässt es sich auch während des Zweiten Weltkrieges ganz gut leben. Der Krieg, der sich längst zum Flächenbrand ausgebreitet hat, ist hier noch nicht angekommen. Doch mit dem Vorrücken der Roten Armee nach Westen, rückt er näher und lässt für viele die Heimat untergehen. So auch für den ostpreußischen Jungen Gunter Nitsch.

In seiner Autobiografie unternimmt er nach über 50 Jahren eine Zeitreise in das ehemalige Ostpreußen. Die Geschichte seiner Kindheit, ist die Geschichte einer erschütternden Flucht, wie sie Tausende mit ihm erlebt haben.
Die Familie lebt in Königsberg. Der Vater ist Konditor und betreibt bis zu dem Tag, wo er einberufen wird, ein Café. Im Oktober 1939 verlässt die Mutter mit Gunter und dem kleineren Bruder Hubert Königsberg und zieht auf den elterlichen Hof nach Langendorf bei Schippenbeil. Der Krieg ist hier noch nicht angekommen. Bis auf die Kräutersammelaktionen für die Wehrmacht und die Warnung der Lehrerin vor Amerikanern und Russen geht es in Langendorf recht beschaulich zu. Da liegt der Hof umgeben von Haselnusssträuchern mit den Ställen für die Tiere, da ist der Schuppen für die große Dreschmaschine, da ist das Wohnhaus mit den steilen Giebeln, da ist der bibeltreue Opa, da ist die Hündin Senta, da ist die Vielfalt an Essen. Eier, Marmelade, Käse, gebratener Speck, Brot und die süße Milchsuppe. Hier hungert noch keiner. Gunter schmeißt sogar die gut belegten Schulbrote weg.

Mit dem Vorrücken der Roten Armee nach Westen rückt der Krieg näher und erreicht im Januar 1945 auch Schippenbeil. Ostpreußen ist von allen Fronten her umstellt. Die einzige Fluchtmöglichkeit ist über die Ostsee.
Die Familie packt das Notdürftigste zusammen und begibt sich mit vielen anderen bei Minusgraden auf die Flucht Richtung der Hafenstadt Pillau. Treck um Treck presst sich durch die vereisten und verschneiten Straßen. Inmitten der Trecks Menschen zu Fuß oder mit Kinderwagen. Und immer wieder die vor dem Feind fliehende Wehrmacht, die sich brutal den Weg freimacht und die Trecks von der Straße drängt, die sich über die 'scheiß verdammten Flüchtlinge' beschwert und sie als Pack beschimpft.

Das zugefrorene frische Haff stillt seinen Hunger. Es bricht unter den schweren Lasten und schlingt die Flüchtenden hinunter. Die Kälte brennt die Fliehenden nieder. In den Gräben verbranntes Fleisch von Mensch und Tier, daneben Koffer, Puppen, Mäntel, Karren. Und immer wieder die Angst vor den russischen Bombern. Gunter "konnte nicht verstehen, wie schnell sich alles verändert hatte".

Die Dörfer sind verlassen und zerstört. In einer Notunterkunft verbringt die Familie mit anderen die Nacht, bis russische Soldaten gewaltsam in das Haus und die Frauen eindringen. Auch Gunters Mutter wird ein Opfer. Von nun an verbirgt sie ihre körperliche Begehrlichkeit, kleidet sich wie die Großmutter, entstellt des Nachts mit allerlei Hausmitteln ihr Gesicht, täuscht Typhus vor. Die Entwurzelten sind unterdessen im blutgetränkten Palmnicken angekommen. Tausende von jüdischen Frauen sind hier am glitzernden Bernsteinstrand von den Nazis ermordet worden. Die Deutschen müssen die Leichen bergen. Gunters Opa ist einer von ihnen. Für diesen überzeugten Christen geht die Welt unter. Zwischen der Bibel und dem Kampf ums tägliche Überleben, zerbricht er immer mehr, wird zu einem Fremden und stirbt entkräftet im April 1946. Mit dem Opa verliert Gunter seinen Fels, den eigentlichen Vater. Die Zeit des Weinens ist jetzt, mit 8 Jahren, für ihn vorbei.

Sie müssen Palmnicken verlassen und werden nach Goldbach deportiert. Wenn es etwas zum Leben gibt, hier gibt es nichts. Die Familie hungert, sucht nach Abfällen, bettelt, hat kein Wasser, kein Licht, kein Brennholz, keine Toilette. Ein stinkender Abfalleimer begleitet Gunter. Die Armut ist unerbittlich. Klamotten aus Säcken geschneidert, verlaust und verdreckt, das sind sie, kaum mehr wieder zu erkennen. Die Mutter schuftet tagsüber auf der Kolchose, nachts riskiert sie ihr Leben für ein paar Kartoffeln. Die Oma führt ein strenges Regiment und weint vor Glück über ein wenig Essen. In den harten Wintern erfrieren die Menschen reihenweise. Nichts ist jetzt mehr heilig. Selbst die Kirchenbänke und die Heiligen werden zu Brennholz verarbeitet. Auch Gunter macht sich über eine Kirchenbank her. Sein weggeworfenes Pausenbrot und die zweckentfremdete Kirchenbank nagen an ihm. Dieses bittere Leben, eine Folge des Frevels und Gottes Strafe? Eine Rote Kreuz Karte gibt der Mutter Hoffnung, zeigt dass der Vater noch lebt. Für Gunter ist sie unbedeutend, denn der Vater hilft ihnen nicht im täglichen Überlebenskampf. Irgendwann ist die Schule wieder auf. Doch alles, was sie lernen, ist die Glorifizierung des Kommunismus und der Sowjetunion.

Wieder und wieder gehen Gerüchte um, dass die Deutschen ausreisen dürfen. Im Sommer 1948 ist es soweit. Mit allem, was sie tragen können, verlassen sie das ehemalige Ostpreußen Richtung Ost-Berlin. Die Mutter und die Oma weinen um die alte Heimat, doch Gunter ist glücklich. Die Ankunft in der neuen Heimat ist nach der strapaziösen Zugfahrt enttäuschend. Kein herzlicher Empfang, stattdessen „Raus! Raus!“. Es klingt wie das „Dawai! Dawei! der Russen. Im Flüchtlingslager endlich Toiletten und Papier, endlich eine Dusche, endlich den geschichteten Dreck abwaschen, endlich sich den Bauch vollschlingen, endlich sich von den Läusen befreien, endlich kurze Hosen tragen, endlich die Haare schneiden. Endlich wieder dazu zu gehören, nur in der Schule nicht. Wie auch, wenn er nur bis zur zweiten Klasse zur Schule gegangen ist? Aber auch hier wieder die Lobduselei auf den Kommunismus und die Sowjetunion. Auch hier wieder Vorurteile. Hier ist er der Ruski, in Goldbach ist er der Faschist gewesen.

Die Mutter entschließt sich in den Westen zum Vater nach Uelzen zu flüchten. Unter erschwerten Bedingungen gelingt ihnen die Flucht, doch der Vater will sie nicht. Schleppt sie stattdessen in ein Flüchtlingslager. Als die Mutter ins Krankenhaus muss, der Bruder ins Sanatorium, kommt Gunter zu Verwandten. Wenn es ein anderes Leben gibt, dann hier. Hier lernt er Tischmanieren, lernt lesen und sich für fremde Welten zu interessieren. Sein Traum wird Amerika. Nach der Genesung der Mutter leben sie wieder im Lager. Wieder sind sie arm und hungern. Sie können es kaum glauben, als sie ein Carepaket erhalten. Dank der regelmäßigen Paketsendung der amerikanischen Familie können sie ihre Ärmlichkeit durchdringen.

Im Dezember 1950 nimmt der unterdessen in Köln lebende Vater wieder Kontakt mit ihnen auf und holt sie nach. Vielleicht können sie noch einmal neu anfangen?

Gunter hat neu angefangen. 1964 ist er nach New York gegangen. Einmal kehrt er noch zurück, begibt sich für sein Buch auf die Spuren seiner ostpreußischen Vergangenheit. Ein Zeitsprung im Jahr 1998, Langendorf heißt schon lange nicht mehr Langendorf, sein Eigentum ist ihm fremd, die neuen Bewohner zeigen sich ihm sehr gastfreundschaftlich.

Gunter Nitschs Erzählung zeigt, dass dort, wo Terror und Krieg vor Anker gehen, die Welt untergeht.

Das Naziregime versenkt das einstige Ostpreußen. Die früh einsetzenden Winter machen eine Flucht für die Bevölkerung, die bis zum bitteren Ende aushalten muss, unmöglich. Für Tausende misslingt die Rettung über das gefrorene Haff.
Das barbarische und mörderische Wüten der Nazis verlangt nach Vergeltung. Eine Vergeltung, die sich erbarmungslos in wilder Raserei gegen die Zivilisten wendet, die die Frauen schändet und Menschlichkeit aufhebt, die keine Atempause zulässt.

Zurück bleiben Entwurzelte, Heimatlose, deren Leben durch die Flucht geprägt ist. Eine Flucht, die mit der Ankunft im neuen Deutschland für Gunters Familie nicht endet.
Gunters Weg in die Zukunft heißt Amerika. Für viele andere gibt es keine Zukunft.

Mit diesem Buch verbeugt sich der Autor noch einmal vor seiner Mutter, die mit ihrer außergewöhnlichen Kraft das Überleben der Familie auf einer langen Flucht erst ermöglicht hat.

Eine lange Flucht aus Ostpreußen, Gunter Nitsch, Mit einem Vorwort von Arno Surminski, Roman, gebunden, 384 Seiten, Ellert & Richter Verlag GmbH, Hamburg 2011, ISBN: 978-3-8319-0438-9, Preis: 19.95 EUR (D), 20.60 EUR (A), 30.50 sFr

© Soraya Levin