Geschichte der Freundschaft

Ein Badeort an der Küste Algeriens. Die Stammgäste sind diesen Sommer ausgeblieben. Nichts pulsiert mehr, kein Nachtleben in Bars, keine Unterhaltung. Der Hobbymaler und Pathologe Matthias hat sich für den Sommer hier einquartiert. Doch statt der malerischen Szenen findet er zwischen den weißen Sandstränden und der Hitze nichts weiter vor als heruntergekommene trostlose Viertel, schäbige verdreckte Hotels und gegenüber Fremden feindlich gestimmte Bewohner.

Um ihn herum arbeitslose Männer in den Cafés, antriebslos und tief verwurzelt in ihrer Tradition. Die Frauen im religiösen Fanatismus unterdrückt, jeder Sicht entzogen und weggesperrt. Dieses Land ist voller Gewalt, hier tobt ein Bürgerkrieg. Hier metzeln fundamentale Islamiten jeden Tag Frauen, Männer und Kinder nieder. Hier liefern sich Studenten Straßenschlachten mit der Polizei.

Hier begegnet Matthias dem Kabylen Yanis. Er verliebt sich in den redegewandten Studenten mit dem athletischen Körper. Während ihrer gemeinsamen Ausflüge entwickelt sich über den Sommer eine leise Freundschaft. Wieder in Berlin erfährt Matthias, dass Yanis seit einer eskalierenden Demo verschwunden ist. Matthias macht sich auf nach Algerien, um Yanis zu suchen. Eine riskante Reise in ein Land, das von Gewalt beherrscht wird. Er findet Yanis. Um ihn zu retten, hilft er dem Verletzten zur Flucht nach Berlin.

Hier in der anderen Welt ist auch Yanis ein anderer. "Ich habe Angst, den Weg aus den Augen zu verlieren." Er verliert ihn aus den Augen, kommt mit dem schnellen Takt nicht mit. Abgetaucht in der Wüste Algeriens ist er hier in Berlin nicht wieder aufgetaucht. Hier prallen Matthias und Yanis unterschiedliche Welten aufeinander. Hier in dieser vermeintlich neuen Heimat wird Yanis seltsam still, findet sich nicht ein, erklärt sich schlicht weg zum Sperrgebiet. Die Liebe ist entzaubert, der der neben ihm liegt, ist nicht wieder zu erkennen, ist ein bleischweres Trümmerteil. Das Vertrauen ist aufgezehrt, Matthias entmutigt und gereizt. Auf diesen Irrwegen taucht noch Natascha auf, Yanis wird Vater und Matthias? Der opfert sich selbst und heiratet Yanis. In Algerien wird unterdessen ein Amnestiegesetz erlassen. Bei einem Besuch in der Heimat verschwindet Yanis ein zweites Mal. Und wieder ist es Matthias, der Freund, der den Freund sucht.

Michael Roes schreibt über die Begegnung zweier unterschiedlicher Menschen, deren Prüfstein die Freundschaft ist. Inmitten der Gewalt Algeriens und Ehrenmorden macht sich der Freund auf die Suche nach dem Freund. Inmitten dieser anderen Welt verliert der Freund seinen Freund. Roes gelingt es, diese andere Welt zweifach darzustellen. Die eine Welt ist das archaische Algerien, in dem wie in einer Stafette der Stab der Gewalt, Unterdrückung und Homophobie vom Vater auf den Sohn weitergegeben wird. Die andere Welt ist das Leben im Exil, in Berlin, wo der Fremde schutzlos dem schnellen Takt ausgeliefert ist und mit einer Freiheit konfrontiert wird, mit der er nichts anzufangen weiß. Für die Freunde ist es ein Kampf, der zum Nahkampf wird, der ihre Zerbrechlichkeit frei legt, jeder Fehltritt eine Erschütterung der Freundschaft. Einer Freundschaft, die dennoch nicht zum Erliegen kommt.

Eine große Kunst wie Roes seinen Erzählfluss mit philosophischen Gedanken zur Freundschaft über Michel Foucault bis zu Gilgamesch verflechtet.

Geschichte der Freundschaft, Michael Roes, 320 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, 2010 Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, ISBN 978-3-88221-534-2, 22,90 / CHF 34,90

© Soraya Levin