Bombay. Maximum City

Die Sehnsucht nach den Blicken in fremde Welten führt jährlich zigtausende Reisende in eines der kontrastreichsten Länder der Erde. Nach Indien. Mit seiner hohen Bevölkerungsdichte, mit seiner atemberaubenden vielfältigen Natur, mit seinen kulturellen Baudenkmälern und seinen Slums. Ein Land voller Gegensätzlichkeit und gerade deshalb faszinierend.

Doch in den seltensten Fällen gelingt es dem Reisenden hinter die Impressionen zu blicken und das Land mit seinen kulturellen und sozialen Zusammenhängen zu fassen.

Der amerikanische Autor indischer Abstammung Suketu Mehta nimmt den Leser mit auf eine Enthüllungsreise in die erste Stadt Indiens, in eine der gigantischsten Metropolen dieser Erde, nach Bombay. Die fast 16 Millionen Einwohner umfassende an der Westküste gelegene Hafenstadt beleuchtet das Leben in diesem Moloch aus der Perspektive von Killern, gewalttätigen Banden, von religiösen Fanatikern, von radikalen Asketen, von Tänzern, von Bollywoodstars, von gegen die Korruption kämpfenden Polizisten, von denen, die auf der Suche nach etwas Glück sind.

Der Autor, als Jugendlicher in die USA emigriert, tut sich am Anfang schwer, seinen Platz in dieser für ihn scheinbar fremden Welt zu finden. Nicht die gesetzestreuen gewinnen gesellschaftliches Ansehen und erreichen ihre Ziele. Vorbild ist der, der sich ein geeignetes Netzwerk an Korruption schafft und der einzige Wert ist Geld. "Bombay überlebt durch Gaunereien: Wir sind alle Mittäter." Suketu Mehta sieht, dass die scheinbar einfachsten Dinge wie eine Toilettenspülung oder das Telefon nicht funktionieren. Und das in einer Stadt, die das moderne aufstrebende Indien verkörpert, hochkarätige Techniker und IT- Spezialisten besitzt.

Massen von Autos kämpfen sich täglich im Schritttempo durch die Straßen Bombays und tragen zur extremen Luftverschmutzung bei. Durch die alte marode Kolonialkanalisation wird das Gebrauchswasser verunreinigt und immer wiederkehrende Darmerkrankungen sind die Folge.

Eine in den Kriegsjahren entstandene Mietgesetzgebung, die den Eigentümer quasi entrechtet, führt zum Verfall der Häuser und zur Verknappung und Verteuerung von Wohnraum. Diese restriktive Politik treibt Tausende Bewohner Bombays in die Slums oder auf die Straße. Wasser ist knapp und daher ein Luxusgut.

Die Stadt erstinkt in dem Gestank der Exkremente. Da die Abflussrohre oft verstopft sind, verrichtet man seine Notdurft in der Öffentlichkeit. Der Gemeinschaftssinn für Sauberkeit außerhalb der vier Wände ist nicht vorhanden.

Anfang der 90er Jahre stürzte das kosmopolitische Bombay in einen Strudel von Gewalt zwischen Hindus und Moslems. Angestachelt von der größten extremistischen Hindu-Partei Bombays, der Shiv Sena und ihrem radikalen Führer Bal Thackeray erlebte Bombay einen Alptraum unsagbarer Grausamkeit.

Sunil, ein Vertreter der Shiv Sena, erzählt, dass er den Brotmann angezündet habe. "Wir übergossen ihn mit Benzin und steckten ihn in Brand. Ich dachte nur, das ist ein Muslim." Bombenterror der Muslime war die Antwort.
Seitdem haben sich religiöse Gruppierungen aus Polizei, kriminellen Banden und Parteien gebildet. Selbst in den Slums wohnen Muslime und Hindus nun getrennt.

In Verbrechen verstrickte Personen wie Sunil machen nun Politik und die Gewaltentfaltung innerhalb der Gesellschaft führt zu ihrer zunehmenden Akzeptanz.

Suketu Mehta sucht auch das Gespräch mit dem Mann, der über "Powertoni" verfügt. Mit dem radikalen Anführer und Hitlerverehrer der Shiv Sena, Bal Thackery, der sich ein Netzwerk von Macht, Korruption und Gewalt aufgebaut hat, das jedweden Widerstand aussichtslos erscheinen lässt. Wer sich dennoch diesem Machtballon entgegenstellt, bezahlt es teuer mit seinem Leben.

Unser Autor lässt auch Satish, einen Auftragskiller, zu Wort kommen, der das Morden lustvoll und erregend findet.
Endlos lange Verfahrenswege und Freikäufe durch die Bandenchefs führen oft zum Freispruch der Täter, für die scheinbar keine Gesetze gelten. Die Polizei kürzt die Verfahrenswege auf ihre Weise ab. So genannte "Encounter" foltern und beseitigen die Täter. Alles sieht selbstverständlich "offiziell" aus.

Die Unterwelt spricht aber bereits eine andere Sprache. Für Mord benutzen sie z. B. das Wort "Totalschaden."
Auf der anderen Seite kämpft Ajay, der unfehlbare Polizeibeamte, gegen ein in Trümmer liegendes Rechtssystem. Er möchte seinen korrupten Vorgesetzen gern mal vor die Füße urinieren und die Banden haben ihn auf ihre schwarze Liste gesetzt.

Es gibt aber auch noch andere wie den Obdachlosen Dichter Babbanji, dessen Lebensschicksal ihn in einem der überfüllten Züge, die täglich Millionen Menschen transportieren, nach Bombay brachte.
Wie die Familie, die ihren Reichtum aufgibt, um die radikalste Glaubensumsetzung des Jainismus zu praktizieren. Die Entsagung von allen weltlichen Gütern, ein Leben in absoluter Demut ohne jedwedes Bedürfnis. Männer und Frauen auf ihrer dauerhaften Pilgerreise voneinander getrennt.

Wie Monalisa, die erotisch-sexuelle sensible Tänzerin, die mehr verdient wie eine Nackttänzerin in New York.
Wie die tragikkomische Geschichte von Manoj, der nachts zur Tänzerin Honey wird.
Und wie viele große und kleine Geschichten um Bollywood, der boomenden indischen Filmindustrie, die bereits fest in den Händen der Unterwelt ist. Wie dem terrorismusverdächtigen und vom Publikum geliebten Schauspieler Sanjay Dutt und Vinod dem Filmemacher, der sich der Staats- und Bandenzensur beugt.

Bombay. Maximum City. Eine facettenreiche und atemberaubende Reportage über eine der größten pulsierenden Metropolen dieser Welt, Bombay.

Suketu Mehtas Begegnungen mit den eigensinnigen und eigenmächtigen Charakteren bringen die Schatten Bombays ans Licht und bieten ein erhellendes Panorama von Gewalt, Tod, Sex, Geld, Macht, Armut, Reichtum, Film und Liebe.
Suketu Mehta hat sich nach Jahren der Emigration neu auf das kosmopolitisch widersprüchliche Bombay eingelassen. Auf die beißenden Gerüche, auf das Chaos, auf den Schmutz, auf die Korruption und auf das freie Lebensgefühl, auf den Lebensdurst und die Aufgeschlossenheit der Menschen. Zwischen schwach und stark sowie hundekalt und heißblütig ist alles spürbar. Der Monsunregen wäscht nicht nur den Sommer ab, sondern auch den Widerstreit der Gefühle. Es ist auch das Bombay von Suketu Mehta.

Bombay, Maximum City, Suketu Mehta, aus dem Englischen von Anne Emmert, Heike Schlatterer und Hans Freundl, mit einem Nachwort von Carolin Emcke, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 13: 978-3-518-41842-0, 26,80, 782 S., die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel „Maximum City: Bombay Lost and Found“ bei Alfred A. Knopf (Random House), New York

© Soraya Levin