Nach Berlin heißt es in den 1930er Jahren für den zwanzigjährigen Willi Kludas, der aus der Erziehungsanstalt geflohen ist. »Hauptsache weg von hier«. Weg von den rabiaten Heimerziehern und der Unterdrückung. Es ist ein Hauch von Sehnsucht. Dieser Wunsch nach Freiheit. Dieser Durst nach einem Stück Normalität eines Heranwachsenden, der von dem ersten Kuss eines Mädchens träumt. In Berlin wartet das Glück und für diese Hoffnung begibt er sich als Passagier eines Zuges, dessen Sitzplatz die Zugachse ist, in Todesgefahr. Die Zugpassagiere in den wohligen Abteils wissen nichts von Willis Fahrt, die ein Wettlauf auf Leben und Tod ist. 

Der Autor Ernst Haffner erzählt in Blutsbrüder nicht nur von Willi Kludas, der am Tod entlangschrammt. Am Beispiel von Willi und seinem Freund Ludwig, die sich einer Clique von Straßenjungen anschließen, zeigt Haffner die Alltagsproblematik der obdachlosen Jugendlichen in Berlin der Weimarer Republik auf. 

Der Autor kennt als Jugendsozialarbeiter die katastrophale Lebenswelt der Jugendlichen aus erster Hand. In seinem 1932 veröffentlichten Roman mit dem Titel Jugend auf der Landstraße Berlin gibt er ihnen eine Stimme und ein Gesicht. Ludwig, Willi, Fred, Jonny, Heinz, Walter, Erwin und weitere Straßenjungen sind die kritischen Gesichter dieser Gesellschaft. Haffners Roman skizziert die desaströsen gesellschaftlichen Entwicklungen in der Weimarer Republik und klagt zugleich die politische Ordnung an. Die Lebensbedingungen für die Jugend sind perspektivlos. Berlin ist zwischen den Weltkriegen ein erbarmungsloser Tummelplatz der Armen, der Gestrandeten, der Arbeitslosen, der Weggelaufenen, der Obdachlosen.
Haffners gesellschaftskritischer Roman fällt als undeutsches und entartetes Werk der Bücherverbrennung der Nazis zum Opfer. Für die Nationalsozialisten gelten die obdachlosen Jugendlichen als asoziale Elemente, die nicht ins deutsche Volk passen. Ebenso passt der Autor mit seiner Kritik am Sozialsystem nicht in die deutsche Volksgemeinschaft. Die Spurensuche nach dem von den Nazis verfolgten Haffner verflüchtigt sich ins Leere. Sein Roman bleibt über Jahrzehnte ein stummes Zeugnis der Jugendlichen am Rande der Gesellschaft, die um Atem ringen und deren Leben auf der Straße keine Abenteuergeschichte ist. 2013 gibt ihm der Verleger Peter Graf wieder eine Stimme. Der neu aufgelegte Titel Blutsbrüder steht für die Verbundenheit der Cliquenmitglieder. Die Clique ist keine gefühlsduselige Jungenfreundschaft. Sie ist ein neues Zuhause, wo sich die Jungen untereinander respektieren. Wo die Mitglieder sich Schützenhilfe geben und wo der Cliquenbulle Jonny wie ein Vater für seine Kinder sorgt. Ihr Zufluchtsort und Treffpunkt ist die Rückerklause am Alexanderplatz. Sie kippen sich mit Alkohol zu und benebelt vom Hochprozentigen vergessen sie zeitweilig die trostlose Welt um sich herum. Sie rauchen wie ein Schlot, bieten ihren Körper an und bestehlen die Freier. Sie nagen täglich am Hungertuch und schmachten nach Brötchen und Wurst. Sie teilen das Essen miteinander und wenn sie mit Fresslust die herbeigeschaffte Mahlzeit in sich hineinstopfen, spiegelt sich dieser ergreifende Moment gegen das gemeinsame Hungerleiden in ihren Augen wider.

Das Überleben auf der Straße ist im Winter extrem schwer. Für die Jugendlichen ist die Suche nach einem Ort zum Aufwärmen ein täglicher Kampf. Sie reihen sich in die Schlange der Erwerbslosen bei der Ewigen Hilfe ein, um zeitweilig eine Bank als Schlafplatz zu ergattern. Die Stadtbibliothek öffnet ihre Türen nicht zum Schmökern, sondern für diejenigen, die mit dem Schlaf und der Kälte ringen. Wie die eiskalte Nacht überstehen? Lieber für 40 Pfennig zu der schlesischen Olga in den feuchten Keller, anstatt im Freien zu schlafen.

Es gibt Tage, da überwinden sie die Tretmühle der Straße. Da feiern sie Geburtstag. Da ist das gemeinschaftliche Ausleben ihres sexuellen Triebes an einer Prostituierten mehr wie eine Entlastung und eine Flucht aus der Realität. Da ist es der Wunsch nach Selbstbestimmung, der den ausgelaugten Frauenkörper missbraucht.

Der Wunsch, die Lebensumstände zu kontrollieren, zeigt sich ebenfalls bei der Bestrafung von Personen, durch die Cliquenmitgliedern ein persönliches Unrecht geschehen ist. Ihre selbsternannte Justiz ist drakonisch und kennt keine Gnade. Auf diesen Straßen lernt jeder auf seine Art, sich durchzusetzen.

Schrittweise driftet der Cliquenbulle Jonny von den Kleindelikten ab. Mit dem Beginn von schweren Straftaten begibt er sich auf dünnes Eis. Nicht nur er droht einzubrechen, sondern die Cliquenmitglieder, die sich seinen Verbrechen anschließen und deren kriminelle Energie aus der Zugehörigkeit zur Gruppe anschwillt.

Ernst Haffner reflektiert kritisch und ist empathisch, was das Abdriften der Jugendlichen in die Kriminalitätsspirale betrifft. Er zeichnet als Kontrast und als Hoffnungsträger die Gesichter von Willi und Ludwig. Zwei aus der Masse, die einen Schlachtplan für die Zukunft schmieden. „Willi und Ludwig, zwei aus dem Elendsheer der Großstadtvagabunden“, die die Ärmel hochkrempeln und sich in die Selbstständigkeit mit Schuhen stürzen und ihr Geld redlich verdienen. Die dem Cliquentrott der Straße entfliehen. Die sich mit einem winzigen Zimmer ein Zuhause schaffen.

Der Autor zeigt, dass diejenigen, die in den Grenzbereichen des Lebens um Atem ringen, keinerlei Hilfe von den Behörden zu erwarten haben. Eher das Gegenteil. Wo ein Hauch von Aufbruch ist wie bei Willi und Ludwig, ziehen sie ihnen den Boden unter den Füßen weg. 

Mit seinem fühlbaren und packenden Schreibstil und der Fokussierung auf den Einzelnen gelingt es dem Autor, Nähe zu den Jugendlichen herzustellen. Haffners Gesellschaftskritik ist ein kraftvolles Buch für Jugendliche und Erwachsene, das anhand des soziohistorischen Kontextes der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen aufzeigt, welche Lebensrealität gesellschaftliche Missstände schaffen. Die zeitlose Milieustudie mit 20 Kapiteln, denen Berliner Bilder vorangestellt sind, ist ein Weckruf für Hilfs- und Präventionsmaßnahmen, die Heranwachsende in der Hauptsache in prekären Lebenslagen benötigen.

Ernst Haffner, Blutsbrüder, Roman, 3. Auflage 2019, Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2015, Taschenbuch, Seiten 272, 12,00 Euro, ISBN 978-3-7466-3069-4

© Soraya Levin