Durch den Schnee, Erzählungen aus Kolyma I

„Viele menschliche Tode habe ich im Norden gesehen – wohl zu viele, sogar für einen einzigen Menschen...“. Der Beginn des ersten Satzes einer Erzählung von Warlam Schalamow in „Durch den Schnee, Erzählungen aus Kolyma I“. Wegen konterrevolutionärer Aktivitäten macht ihn das stalinistische Unterdrückungssystem zum politischen Gefangenen und schließlich zum Gulag Häftling.

Er kommt zur Zwangsarbeit in die gefürchtete Kolyma Region, in die unmenschlichen Lager des Nordostens der Sowjetunion.

In diesem harten Klima, wo die Temperatur auf bis zu 50 Grad unter Null sinkt, wo die hinweg gerafften Toten im Eis lebendig bleiben, wo der Frost Eitergeschwüre hervorruft und die Knochen freilegt, wo er Finger und Zehen raubt, wo die Tagesration nicht mal für ein Kleinkind reichen würde, wo Essen zum Schlüsselelement wird, wo selbst für die Schwächsten die Arbeitsnorm erhöht und die tägliche Arbeitszeit immer mehr gesteigert wird, wo Diebstahl, Erniedrigung, Schläge, Tritte und Mord durch die Aufseher und durch andere Mithäftlinge an der Tagesordnung sind, wo die Häftlinge zusammengepfercht in den schmutzigen, verseuchten und kalten Baracken liegen, wo die Angst vor der scharfen Eiseskälte in den Bergwerken zur Selbstverstümmelung und zum Selbstmord antreibt. Hier in den Lagern der Kolyma überlebt nur der, der äußerst zäh ist, überlebt nur der, dessen menschlicher Geist noch im Besitz von etwas Eigenem ist. Bei Warlam Schalamow sind es die Erinnerungen an Gedichte, bei anderen wie Samjatin das Lesen einer Messe.

Ausgehungert und völlig abgemagert, erschöpft von der eisigen Kälte und schwerster Arbeit in den Bergwerken, voller Läuse, Eitergeschwüre und offener Wunden, erkrankt an Skorbut und Pellagra, schwinden Schalamow beinahe seine Körperkräfte, ist er schon dem Tod ganz nah.

Doch Warlam Schalamow überlebt und entkommt dem Gulag. Aber die Barbarei in den Lagern hinterlässt zeitlebens schmerzhafte Spuren in den Tiefen seiner Seele. Niederdrückend sein Bekenntnis „...ich war menschliche Grubenschlacke.“ Schalamow zeigt, dass dieser apokalyptische stalinistische Lagerkosmos aus Kälte, Hunger und Folter den Menschen auf unerbittliche Weise zur primitiven und anarchischen Rohheit zwingt.

Warlam Schalamows Novellen machen eins besonders deutlich. Kolyma ist mehr als ein Symbol des Gulag. Kolyma steht für einen verbrecherischen Apparat, der missliebige, nicht systemkonforme Menschen, ob Lehrer, Bauer, Arbeiter, mundtot macht. Einem totalitären System, dem letztlich die Menschenrechte zum Opfer fallen.

„Durch den Schnee, Erzählungen aus Kolyma I“ ist ein Zeugnis menschlicher Barbarei und unumkehrbaren Elends, das bereits in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn ins Bewusstsein der Menschen bringen wollte. Doch die gesellschaftliche Kritik mündet in der Verhaftung und im Schweigen.

Mit Schalamows „Durch den Schnee, Erzählungen aus Kolyma I“ tut sich eine neue Chance auf, den Schleier des Schweigens zu lüften und sich ernsthaft mit dem unmenschlichen Leben in den stalinistischen Arbeitslagern auseinander zu setzen. Sich endlich der historischen Vergangenheit und Verantwortung zu stellen.

Warlam Schalamow, Durch den Schnee, Erzählungen aus Kolyma I, Werke in Einzelbänden, Band I, aus dem Russischen von Gabriele Leupold, herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein, Matthes & Seitz, 1. Auflage, Berlin 2007, 256 Seiten, gebunden, 22,80 /sFr 40,50, ISBN 978-3-88221-600-4

© Soraya Levin