Was bedeutet es, jüdisch zu sein? Und welchen beschwerlichen Kampf bringt das Jüdischsein mit sich? Mit Blick auf das Erbe der Shoah und die Gegenwart, auf Religiosität, Tradition, kulturelle Besonderheiten, das Leben in Deutschland, Antisemitismus und den Staat Israel kommen in dem Buch „Schabbat im Herzen. Sehnsucht nach Zugehörigkeit“ 18 Menschen mit jüdischem Hintergrund und unterschiedlicher religiöser Praxis zu Wort. 

Es sind Kurzporträts von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde, Rabbinern, Antisemitismusforschern, Schriftstellern und Menschen, die einen direkten familiären Bezug zum Judentum haben, sei es durch ihre Eltern, Großeltern oder weitere Vorfahren. Sie alle eint die familiäre Erfahrung, Opfer der Shoah zu sein. Es ist die Sehnsucht der ewig verfolgten und von Hass und Mord heimgesuchten Minderheit nach einer Gruppenidentität, die mehr ist als ein seelisches Leiden. Es ist die Trauer über den Verlust der Angehörigen und die beraubte Möglichkeit, den anderen kennenzulernen, die die Familienstafette an die Nachkommen wie bei Alexandra Jacobson weiterreicht. Ihre Großmutter hat sie nie persönlich kennengelernt. Es ist sicher, dass es zahlreichen Kindern auf der Welt ähnlich ergeht. Der Unterschied zu anderen Kindern ist, dass Alexandras Oma im Vernichtungslager Sobibor einen gewaltsamen, geplanten Tod fand. Die einzige Verbindung zur Großmutter sind Briefe, die sie hinterlassen hat. Der innere Frieden und die Zeit mit der Familie und der Gemeinschaft am Schabbat, den die Großmutter in ihren Briefen mit Schabbat im Herzen betitelt hat, machen den traditionell am Freitagabend beginnenden Schabbat für Alexandra seitdem zu einer Besonderheit. 

Generationenübergreifend stellt sich daher die Frage nach dem Umgang mit dem historischen Erbe der Shoah und der persönlichen Beziehung zum Judentum. So wie bei Nea Weissberg, deren Vater in dem Foto seiner ermordeten Mutter und im Gebet an der Klagemauer eine tröstliche Quelle fand. Nea lebt ihr Jüdischsein nicht religiös aus. Was sie weiterreicht, ist die jüdische Tradition wie die Weitergabe von Tonbandaufnahmen mit jiddischen und hebräischen Liedern ihrer verstorbenen Mutter an die Enkelkinder. Es ist ein tröstliches Vermächtnis der vertrauten Mutterstimme, die mit ihren Liedern eine Verbindung zu den kulturellen Wurzeln herstellt und auf diese Art die jüdische Tradition bewahrt. 

Eine identitätsstiftende kulturelle Praxis stellen die Befragten durch das jüdische Essen, das Feiern jüdischer Festtage und das Tragen von jüdischen Symbolen wie eine Kette mit dem Davidstern her. Das Sichtbarmachen der jüdischen Tradition bringt aber auch Konflikte mit sich, die sich im Antisemitismus zeigen. Die Diskriminierungserfahrungen der skizzierten Personen und ihrer Familien sind abhängig von dem Land, vom politischen Klima und von aktuellen Ereignissen. Insbesondere dient der Nahost-Konflikt als Schutzschild für nach außen getragenen Judenhass. Antisemitische Stereotype wie "Du siehst nicht aus wie eine Jüdin" oder »Du hast ja so ein typisch jüdisches Gesicht!« sind selbstverständliche Äußerungen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft.
Manche der Befragten sind von dem Antisemitismus derartig eingeschüchtert, dass sie aus Angst vor antijüdischen Repressionen in ihrem sozialen Umfeld keine jüdischen Symbole tragen. 

Wie Nea Weissberg bereits in ihrem Buch "Beidseits von Auschwitz" thematisiert hat, bleibt die Weitergabe des Antisemitismus an die nächste Generation der Täter erhalten. 
Es zeigt sich an den Äußerungen der Interviewten, dass der abgrundtief verwurzelte Judenhass weiterhin auf die jüdische Identität einwirkt. Ängste bezüglich des Jüdischseins und des ansteigenden Antisemitismus entstehen. Besonders besorgniserregend und nachwirkend ist das Attentat auf die Synagoge in Halle am jüdischen Feiertag Yom Kippur 2019. Es verdeutlicht, dass die antisemitische Gewalterfahrung sich zu einem generationsübergreifenden Teil einer fragilen jüdischen Identität herauskristallisiert und in eine allgegenwärtige Bedrohung übergeht, die unerwartet überall und jederzeit den Juden auflauert. 

Einer der Befragten, Prof. Dr. Karl Erich Grözinger, stellt zu der Bekämpfung des Antisemitismus die Analogie zum Mythos des griechischen Sisyphos her. Damit verdeutlicht Grözinger, dass der Kampf gegen den Judenhass ein kontinuierlicher, immerwährender und zermürbender Prozess ist, der sich zwangsläufig zum Bestandteil der jüdischen Identität ausbildet. 

Marina Chernivsky hat sich dieser kräftezehrenden Entwicklung gestellt. 2017 gründet sie die erste sich auf Antisemitismus basierende Fachberatungsstelle OFEK, die die Leidtragenden in den Fokus rückt. Mit der Abkehr vom täterzentrierten Ansatz rücken die Opfer und ihre Bedürfnisse in den Vordergrund. Chernivsky sieht im Antisemitismus ein strukturelles Problem. Wenn sie sagt, die Juden in Deutschland tragen ein Stück Vernichtung mit sich, dann ist daraus zu schließen, dass mit dem Erbe des Holocaust die Last der Vergangenheit ein integraler Bestandteil der jüdischen Identität ist. 

Der Bezug zu dem Staat Israel entwickelt sich ebenfalls für die Befragten zu einem Identitätsanker. Denn Israel steht für die Hoffnung auf eine demokratische und jüdische Zukunft. In Zeiten des sichtbaren und wachsenden Antisemitismus ist das Jüdischsein kein Sonntagsspaziergang. Die Reibung am Staat Israel beendet Freundschaften zwischen Juden und Nicht-Juden. Die Wahrnehmung einer einseitigen, vor allem kirchlichen und linksintellektuellen Sicht auf den Nahost-Konflikt, der die Israelis zu Tätern stilisiert, führt zu der Erkenntnis, dass der Erhalt eines jüdischen Staates als sicherer Hafen unabdingbar ist. 

Auch wenn der Glaube an den sicheren Hafen, den die Porträtierten nichtsahnend von dem bevorstehenden, bestialischen Terroranschlag der radikal-islamischen Hamas am 7. Oktober 2023 beschwören, mit Sicherheit erschüttert ist, so verdeutlicht die antisemitische ansteigende Welle, die dieser Anschlag und der Gegenschlag ausgelöst haben, dass ein derartiger Hafen nach wie vor überlebenswichtig ist. 

Während die Solidarität mit Israel massiv schwindet, die Sicherheit Israels unberücksichtigt bleibt oder verharmlost daherkommt, ist die Unterstützung für Israel für viele der Interviewten ein Teil ihrer Identität. So erzählt der Schriftsteller Gabriel Berger, dass er mit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 und dem damit verbundenen Antisemitismus sein Judentum zum ersten Mal richtig wahrgenommen hat, indem er sich zum Verteidiger Israels wandelte.

Was alle Befragten verbindet, ist die Erfahrung, im Blick der Mehrheitsgesellschaft »anders« zu sein. Ordnet man dieses »anders« ein, stellt sich die Frage: Warum ist jüdisches Leben, das es seit mindestens 1700 Jahren auf deutschem Boden gibt, bis heute in der Gesellschaft nicht sichtbar angekommen?

Schabbat im Herzen. Sehnsucht nach Zugehörigkeit“ verdeutlicht die Vielschichtigkeit der jüdischen Identität und zeigt, dass diese deutlich über das Religiöse hinausgeht.
Die geforderte Sichtbarmachung der jüdischen Vielfalt ist ein wesentlicher Schritt in Richtung der Bewusstwerdung über die historische Kontinuität, gegen Antisemitismus und für einen positiven gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Nea Weissberg & Alexandra Jacobson (Hrsg.), Schabbat im Herzen. Sehnsucht nach Zugehörigkeit,  Lichtig-Verlag, Berlin 2023, Neuerscheinung 1. September 2023
167 Seiten, ISBN:978-3-929905-44-1, 20,00 EUR

© Soraya Levin